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Aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Das_B%C3%B6se
Das Böse (ahd. bôsi, von vordeutsch *bausja- „gering, schlecht“, genaue Etymologie unklar) ist der Gegenbegriff zum Guten und ein zentrales Konzept der Philosophie- und Religionsgeschichte.
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Philosophie:
In der philosophischen Ethik wird im Allgemeinen eine Handlung oder der diese erstrebende Wille als "böse" bezeichnet, wenn die Handlung als moralisch unzulässig bewertet wird. Je nach ethischer Position werden allerdings unterschiedliche Kriterien angelegt. Beispielsweise beurteilen konsequentialistische Theorien hierfür die Handlungsfolgen, teleologische die erstrebten Handlungsziele, deontologische die betroffenen Güter oder Pflichten oder Regeln; gesinnungsethische und teils auch tugendethische Ansätze sehen oftmals von der Handlung ganz ab und beurteilen lediglich den Willen.
Epiktet
In seiner Sentenzensammlung "Encheiridion" (deutsch "Handbüchlein der Moral") beschreibt Epiktet, dass ebenso, wie ein Ziel nicht zum Verfehlen aufgestellt werde, das Schlechte kein Ziel sein und in der Weltordnung und im Sein keine Erstursache haben könne. Das Böse könne jedoch auch als solches angestrebt werden. Dabei wirft Wille zum Bösen die Frage nach dem Ursprung des Bösen auf.
Augustinus
Augustinus zufolge kommt das Böse aus dem freien Willen des Menschen in die Welt. Durch die Erbsünde trägt er die Schuld für sein Leiden.
Nietzsche
Friedrich Nietzsche erklärt das Böse zu einem Konstrukt christlicher Sklavenmoral, das die ursprüngliche Unterscheidung von gut und schlecht in gut und böse umgekehrt habe.
Bezug auf den Standpunkt:
Die konkrete Beurteilung des moralischen Wertes ist vom jeweiligen Kontext der Situation und des Beurteilenden abhängig.
Einige philosophische Positionen vertreten, dass die Standpunktabhängigkeit für ethische Urteile prinzipiell wesentlich ist. Diese Haltung vertreten verschiedene Positionen des moralischen Relativismus sowie einige Positionen des Pragmatismus und Subjektivismus. Die Kontextabhängigkeit wird von den verschiedenen Positionen unterschiedlich stark hervorgehoben.
Benedict de Spinoza kennzeichnete das Böse in seinem Werk „Ethica ordine geometrico demonstrata” (deutsch: „Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt”) als individuelle Kategorie: das was die Selbstbehauptung des Einzelnen hemme, nenne der Betreffende „böse” (entsprechend umgekehrt gilt dies ihm zufolge ebenso für den Begriff „gut”).
Demgegenüber vertreten andere ethische Positionen, dass es feste moralische Wahrheiten, kontextunabhängig bestehende moralische Werte und Güter gibt. Auch diese Positionen beanspruchen ihrer eigenen grundlegenden moralischen Intuitionen gerecht zu werden. Dennoch werden besonders einige ethische Theorien, besonders deontologische Theorien, als rigoristisch kritisiert. So etwa, wenn Kant entschieden den Grundsatz „Sollen setzt Können voraus” ablehnt.
In verschiedenen Gesellschaften und deren Teilsystemen, insbesondere in vielen Religionen, existieren Übereinkünfte, welche die ethische Bewertung der meisten Handlungsweisen regeln. Welchen Stellenwert diese Konventionen für die Begründung und Gültigkeit moralischer Urteile haben, wird unterschiedlich bewertet. Immanuel Kant unterschied in dem Text Was ist Aufklärung zwischen öffentlichem und institutionsgebundenem Gebrauch auch praktischer Vernunft. In seiner Eigenschaft als Wissenschaftler müsse nach Kants Argumentation auch ein Prediger die Geltungsbedingungen seiner religiösen Konventionen einklammern, so Kant dort, in seiner Eigenschaft als Glied seiner Kirche sei er jedoch darin gerechtfertigt, sich an diese zu halten.
Andere Zwischenpositionen haben Entwürfe der theologischen Ethik ausgearbeitet. So vertritt etwa Alfons Auer: ethische Urteile beziehen ihren Motivationshorizont aus religiösen Überzeugungen, sind aber autonom zu begründen. Nach der Erschließung von Werteinsichten hat die Begründung normativer Aussagen zu erfolgen. Erstere sind daher Bedingungskontext von Normbegründungen. Damit sind theologische Aussagen interpretierender Kontext einer in sich selbständigen ethischen Argumentation.
Auch etwa Ringeling betont: Das Christentum hat eine bestimmte Kulturerfahrung und prägt von dieser her seine Rezeption neuer Erfahrungen. Integrierung dieser Erfahrungen sei aber auch als disfunktional zu herrschenden Kommunikationstrends aufzufassen.
Dietmar Mieth etwa unterscheidet wie folgt:
* Soziale Normen sind nicht durch Einsicht in Gründe begründet, sondern aufgrund sozialer Beziehung und entlasten den Menschen von einer Dauerreflexion des Verhaltens.
* Sittliche Normen dagegen integrieren und überbieten biologische oder jurischen Normverständnisse in Richtung auf eine freie Orientierung menschlichen Handelns und sind Wertvorzugsurteile, also Abwägungen von Werten unter vorgegebenen Bedingungen, generelle oder relative Vorrangregeln im Falle des Wertkonflikts. Von Normen ist daher erst dann zu sprechen, wenn die Klausel der Anwendung eindeutig geklärt ist.
* Deontologische Normen sind Normen, die immer gebieten oder verbieten (etwa: die Wahrheit sagen und die Lüge meiden)
* Teleologische Normen gebieten oder verbieten im Hinblick auf die Wirkungen des Handelns und geben daher genau die Umstände an (etwa: die direkte Tötung eines unschuldigen Lebens ist nicht erlaubt).
Wer nicht an die Existenz (standpunktunabhängiger) deontologischer Normen glaubt, kann diese immerhin darin gerechtfertigt sehen, allgemeine Werteinsichten mit höchster Dringlichkeit einzuschärfen. Normative Ethik hat, so Mieth, ihre Stärke in der Abgrenzung des Bösen und damit im Gewinn eines Rahmens für das Gute und ist demnach entweder formal oder kasuistisch. Als Vermeidungsimperative verstandene Normen benennen also das Nicht-Mehr-Gute (Böse), lassen damit aber das Gute als das material Sittliche offen. Für konkrete Urteile sind Erfahrungskontexte, wie für Auer, entscheidend: auf einfachen Werteinsichten ruhen komplexere Werturteile auf, die aus dem Wertkonflikt erst entstehen – aber auch einfache Werteinsichten sind schon keineswegs selbstverständlich. Die dafür nötige Kompetenz beruht auf Erfahrung als integrierender Aneignung (nicht als Empirie, sondern als Experienz, die durch symbolische Muster vermittelt wird). Ein Ethos bildet sich demnach aus dem Zusammenwirken von Werteinsichten. Letztlich steht nicht die Frage nach den richtigen Normen, sondern nach der personalen Aneignung der Sittlichkeit („Wie soll ich sein? Was kann ich tun?“) im Vordergrund. Dies bedingt nicht nur eine normative, sondern auch haltungspädagogische Behandlung ethischer Probleme.
Bezug auf die Entscheidungsweise:
Karl Jaspers[3] stellt für das Verhältnis zwischen Gut und Böse drei Stufen vor, auf denen der Mensch Alternativen hat und damit zur Entscheidung gefordert ist.
1. Moralisches Verhältnis: Dieses Verhältnis steht im kantschen Sinn zwischen Pflicht und Neigung. Böse ist, sich von den unmittelbaren Antrieben leiten zu lassen. Dem gegenüber steht die Beherrschung der unmittelbaren Antriebe durch den sittlichen Gesetzen folgenden Willen. Wie auf den anderen Stufen entscheidet nicht das konkrete Handlungsergebnis darüber, ob der handelnde Mensch böse sei, sondern die Auswahl seines Antriebs.
2. Ethisches Verhältnis: Das Verhältnis wird erst von der Wahrhaftigkeit der Motive bestimmt. In der Realität des Handelns sowohl unter Bedingtem wie auch Unbedingtem macht das Unbedingte vom Bedingten abhängig. Er nimmt sich selbst seine Wahlfreiheit und entzieht sich somit seiner Verantwortung. Böse ist hier Schwäche, die der Neigung nachgibt. Böse ist sogar die Scheingüte als Luxus glücklicher Verhältnisse. Alternativlosigkeit wird instrumentiert, um dem Handelnden den Konflikt zu ersparen.
3. Metaphysisches Verhältnis: Hier bestimmt das Verhältnis zwischen zum Sein drängender Liebe und zum Nichtsein drängender Hass das Verhältnis zwischen Gut und Böse. Böse ist erst der Wille zum Bösen (auch ausgedrückt in der Entschuldigung des Bösen), der hier ein Wille zur Zerstörung ist.
Die erste Stufe ist die strikteste hinsichtlich ihrer Anforderung an den Handelnden: Triebhaftigkeit jeder Art. Auf der zweiten und schwächeren Stufe ist erst ein Mangel das Kriterium für das Böse: der Mangel an Wille zum Guten, zur Wahrhaftigkeit. Auf der dritten und schwächsten Stufe ist ein Vorhandensein das Kriterium für das Böse: das Vorhandensein des Willens zum Bösen.
Den drei Stufen gemeinsam ist, dass das Handlungsergebnis nicht als Kriterium für das Böse dient. Kein Zweck kann so die Mittel heiligen. Die Mittel sind im Fokus. Dieser bei sorgfältig durchdachtem Handeln mögliche Ansatz zur Definition des Bösen ist eine Herausforderung sowohl einerseits an die Gruppe Relativismus, Pragmatismus und Subjektivismus, die den Raum für Alternativen durch ergebnisorientierte Vorwertungen einschränkt, wie auch andererseits an den Fundamentalismus, der Alternativlosigkeit hart konstruiert.
Der Bezug auf die Entscheidungsweise - auf den Weg - anstelle eines Bezugs auf Handlungsergebnisse - auf das Ziel - hat auch Gemeinsamkeiten mit urbuddhistischen Auffassungen, in denen nicht Ergebnisse bewertet und göttliche Vorgaben befolgt werden, sondern Getriebenheit durch Gier und fehlenden Bemühen um Erkenntnis zu bösem Handeln führt.
Auffassung des Bösen in den Religionen...
Christentum:
Christliche und jüdische Traditionen sprechen von einer jeden Menschen prägenden Erbsünde. Dieses mit dem Mythos des Sündenfalls des ersten Menschenpaares verbundene Motiv wird oft als Ätiologie interpretiert, also als ein Versuch, eine legendarische Antwort auf die Frage zu geben, warum es Böses in der Welt gibt, genauer: von menschlichen Individuen selbst verursachtes Übel (moralisches Übel, malum morale) bzw. Unheil erzeugende soziale Strukturen. Daneben wird auch von Übel bzw. Bösem gesprochen, das nicht durch Menschen verursacht ist und für das nach Auffassung einiger Philosophen und Theologen Gott selbst verantwortlich sei (malum physicum et metaphysicum).
Daoismus:
Das Dao hat im Daoismus die Bedeutung eines der ganzen Welt zugrunde liegenden, alldurchdringenden Prinzips. Es ist die höchste Wirklichkeit und das höchste Mysterium, die uranfängliche Einheit, das kosmische Gesetz und Absolute. Aus dem Dao entstehen die „zehntausend Dinge“, also der Kosmos, und auch die Ordnung der Dinge entsteht aus ihm, ähnlich einem Naturgesetz, doch ist das Dao selbst kein omnipotentes Wesen, sondern der Ursprung und die Vereinigung der Gegensätze und somit undefinierbar.
Das Wirken des Dao bringt die Schöpfung hervor, indem es die Zweiheit, das Yin und das Yang, Licht und Schatten, Gut und Böse hervorbringt, aus deren Wandlungen, Bewegungen und Wechselspielen dann die Welt hervorgeht.
Mittelalterliche Vorstellung der Entstehung des Bösen: der Engel Luzifer stürzt; er wird zum „bösen Gegenprinzip“ Gottes (Les Très Riches Heures des Grafen von Berry, fol. 64v, 1412/16)
Religionswissenschaftliche Aspekte:
Religionswissenschaftlich lassen sich zwei Formen des Bösen unterscheiden: einerseits Böses in der menschlichen Sphäre (der Gegenpol des sittlich Guten), andererseits böse 'göttliche' bzw. geistige Mächte oder Kräfte, die in schädlicher Weise wirken oder denen in ethischer Hinsicht schlechte Einflüsse zueigen sind, das „numinose Böse“[4]
In vielen Religionen (das typische Beispiel Manichäismus wird in jüngeren Forschungen oft differenzierter beurteilt), tendenziell auch in Phasen und Teilen des Christentums, gibt es Strömungen, die die Welt als Schauplatz eines Kampfes zwischen „Gut“ und „Böse“ betrachten. Die guten Elemente (Götter/Engel) bekämpfen die bösen Elemente (Götter/Dämonen). In diesem Konzept hat jeder Mensch die Wahl, sich entweder für die gute oder die böse Seite zu entscheiden.
Ein solcher Dualismus steht allerdings im Widerspruch zu einem konsequent verstandenen Monotheismus: Wenn Gott die einzige Ursache der Welt ist, kann daneben keine zweite (böse) Macht als eigenständig gedacht werden. Im dogmatischen System christlicher Lehre wurde das Böse daher Gott immer untergeordnet (etwa als gefallener Engel, der nur mit Gottes Zulassung agieren könne). Die Ambivalenz dieser Vorstellung illustriert schon die biblische Erzählung davon, wie das Böse nach der Schöpfung in die Welt kam (Gen 3): Es schlich sich in Gestalt einer Schlange in den Garten ein. Dabei wird ausdrücklich gesagt, dass es sich um ein Geschöpf Gottes handelte, dass sich freilich (wie der Mensch) durch Klugheit und nackte Unbehaartheit (ein Wortspiel im Hebräischen) besonders auszeichnete. Dem aufmerksamen Leser entgeht nicht, dass Gott mit seiner wenigstens überzogen zu nennenden Begründung die Übertretung des Gebotes selbst provoziert hat.
Von zahlreichen Philosophen und Theologen (z. B. bei Augustinus und fast durchweg im Mittelalter) wird das Böse als substanzlos charakterisiert. Es ist ein bloßer Mangel des Guten (ein Privativum). Als Privation wird beispielsweise auch die Blindheit analysiert: Blindheit sei keine positive Qualität, sondern schlicht Mangel an Sehfähigkeit. Das Böse sei dem menschlichen Wesen innewohnend und wesentlich (vgl. Immanenz) postuliert Immanuel Kant 1793 in seiner religionsphilosophischen Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“.
Personifikationen:
Es gibt in den verschiedenen Kulturen verschiedene Personifikationen des Bösen, etwa heidnische Götter wie der germanische Loki, den christlichen Teufel, aber auch bestimmte Arten arabischer Dschinns oder die Dämonen des Hinduismus. Ihnen allen ist – ihrer bösen Natur gemäß – gemeinsam, dass sie aus freiem Willen und eigenständig Unglück und Verderben bringen. Wichtiges Unterscheidungskriterium des Judentums ist es hier, dass nichts als das personifizierte Böse betrachtet und gelehrt wird, es gibt keinen "Teufel" in der jüdischen normativen Tradition, siehe auch Satan.
Im Laufe der Geschichte wechselten die personifizierten Mächte durch den Wechsel der Religion bisweilen vom Guten zum Bösen, so wandelte sich z. B. der gute griechische Hirtengott Pan in Folge der christlichen Missionierung zu einer heute weit verbreiteten Darstellung des Teufels (eine solche Umdeutung ist ein Fall von Interpretatio Christiana).
In der Moderne werden auch reale Menschen oft zu Personifikationen des Bösen stilisiert. Prominente Personen, die in einigen Kulturen „das Böse“ verkörpern, sind Josef Stalin, Mao Zedong, Adolf Hitler, Pol Pot, Osama bin Laden, Rasputin u. a. - Schwarzweiß-Denken ist in einigen modernen Gesellschaften und Religionen immer noch weit verbreitet und findet seinen Ausdruck darin, dass ein Gegner als das „Reich des Bösen“, als „Teufel“, als „Ungläubiger“, als „Antichrist“, als „Ketzer“ bezeichnet wird. Solche Personifikationen sind auch in zahlreichen Fantasy-Bücher und -Filmen ausgestaltet.
Nach einigen Auffassungen wird das Böse auch als eigenständige Urkraft betrachtet, die sich manchmal in Dämonen personalisiert, manchmal aber auch eigenständig auftritt als das Absolut Böse (z. B. im Cthulhu-Mythos). Die Entwicklung der Gesellschaft verläuft nach Auffassung einiger in Zyklen zwischen Zeitaltern des Guten (Goldene Zeitalter) und Zeitaltern des Bösen (Dunkle Zeitalter).
Symbole:
Drudenfuß
Drudenfuß am Glockenturm der Marktkirche in Hannover.
Ein prominentes Beispiel für ein Symbol des Bösen ist der auf der Spitze stehende Drudenfuß (gestürztes Pentagramm). Aber auch Totenköpfe oder – in Auseinandersetzung mit den Zeichen des Christentums – umgedrehte Kreuze (sog. Petruskreuz) werden heute als Symbole des Bösen verwendet.
Hier ist allerdings anzumerken, dass diese Symbole erst in der Neuzeit zu Zeichen des Bösen erklärt wurden und es in ihrer ursprünglichen Bedeutung nicht waren und sogar an alten Kirchen zu finden sind (Beispiel: die Marktkirche Hannover).
Dateianlage:
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Nach : http://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/105.html#ch8
2. Inhaltlicher Teil: Wie kommt das Böse in die Welt?
- Lösungsversuche angesichts der Logik der Sündenfallerzählung:
Die hier interessierende Fragestellung ist schon mehrfach angeklungen: Gibt es eine systematische Antwort auf die Frage nach der Herkunft des Bösen, welche den Positionen in der Sündenfallerzählung entspricht, dass das Böse weder in Gott noch in der Schöpfung noch in einer ungeschaffenen gottfeindlichen Macht gründet ?
Bevor verschiedene systematische Antwortmöglichkeiten im Licht der Sündenfallerzählung untersucht werden, ist die Fragestellung zu präzisieren. Angezielt ist (zunächst)(26) nur die Frage, wie das ursprünglich positive Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf in ein Verhältnis der Entfremdung umschlagen konnte. (27) Es geht dabei vor allem um den ersten Ansatz der in Gen 1-6 beschriebenen kontinuierlichen Abwärtsbewegung:
Ist es möglich, das Verhältnis zwischen Gott und Schöpfung als ursprünglich unbeeinträchtigt, - im Sinne des priesterschriftlichen „gut" und „sehr gut" - zu denken, ohne dass die Entstehung jener Entfremdung, die durch die Gebotsübertretung Evas und Adams am Baum der Erkenntnis symbolisiert wird, schlichtweg unerklärlich wird ?
Es ist diese Frage gemeint, wenn ich im folgenden kurz vom "Unde-malum-Problem" sprechen werde.
2.1 Unzureichende Lösungsversuche:
Folgt man einer eindeutigen Zuordnung, so kommen nur drei mögliche Verursacher für das Böse in Frage:
(1) die Schöpfung, und zwar (1.1) der Mensch oder (1.2) ein anderes geschaffenes Wesen, wobei durch die Sündenfallerzählung die Schlange als Geschöpf nahegelegt wird;
(2) Gott selber;
(3) eine nichtgöttliche, ungeschaffene Macht.
Jede dieser drei Lösungen liegt irgendwie in der Reichweite der Sündenfallerzählung und wird von dieser negiert.
2.1.1 Zurückführung des Bösen auf die Schöpfung:
Die erste Alternative besteht in der Annahme, dass die Sünde ihre Wurzel in einer anfänglichen Bosheit oder Unvollkommenheit im Schöpfungsbereich hat. Solche Gedanken finden sich bereits in gnostischen-dualistischen Deutungen. (28) Bei neueren Deutungen wären Kierkegaard und Drewermann zu nennen, insofern bei ihnen die Angst eine anfängliche Bestimmung der Freiheit ist, die dem Sündenfall nicht folgt, sondern ihm ursächlich vorausgeht. (29)
Anm.: "Die Angst" bestätige Ich auch als "anfängliche Bestimmung der Freiheit",
- lange "vor einem etwaigen Sündenfall", - doch "die Angst ist das Merkmal der Ungewissheit, nicht der Bosheit". - A. -
Die Sündenfallerzählung gibt Anhaltspunkte für eine solche Deutung sowohl durch die Beschreibung der Schlange (als Geschöpf Gottes!) mit ihrer Listigkeit als auch des Menschen mit seiner Verführbarkeit. Gegen eine Verwurzelung des Bösen (oder einer zwangsläufig zum Bösen führenden Schwäche) spricht die klare Bezeichnung von allem Geschaffenen als ursprünglich gut. Das ist explizit im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht ausgedrückt; aber was P deutlich sagt, findet sich auch bei J in narrativ-beschreibender Form. (30) Ob man nun die Wurzel des Bösen im Geschöpf Mensch oder im Geschöpf Schlange ansetzt, - in jedem Fall würde man damit der „intentio operis" einer ursprünglichen Gutheit des Geschaffenen widersprechen.
Anm.: Was insofern von Bedeutung ist, denn ohne "Urgrund des Guten" könnte sich der Mensch nicht in so einem Gefühl wiederfinden", - und das ist Ihm sehr wohl immer wieder möglich, - es sei denn, "er schüfe den Urgrund des Guten und erlebt Ihn immer dann". - A. -
2.1.2 Zurückführung des Bösen auf Gott:
Die zweite Alternative stellt - meist zusammen mit der Gutheit der Schöpfung - die Gutheit des Schöpfers selber in Abrede. Dieser Weg wurde von gnostischen Deutungen des Sündenfalls beschritten. Für eine solche Deutung gibt die Sündenfallerzählung zunächst indirekte Anhaltspunkte: die scheinbare Willkür des Verbots; - warum musste Gott einen verbotenen Baum in die Mitte des Gartens setzen? Oder die augenscheinliche Unverhältnismäßigkeit zwischen Übertretung und Größe der Strafe. Durch solche Unstimmigkeiten gewinnt die Verdächtigung der Schlange an Plausibilität. Ist Gott vielleicht wirklich eifersüchtig? (31) Gnostische Texte wie das Philippusevangelium geben der Schlange gegen Gott recht. (32) Eine solche Antwort widerspricht ganz offensichtlich der Intention des Textes. Die genannten indirekten Anhaltspunkte ergeben sich aus einer Überstrapazierung des Textes. Außerdem spricht dagegen, dass Gott durchgehend als fürsorglich beschrieben wird. (33)
2.1.3 Zurückführung des Bösen auf eine ungeschaffene dämonische Macht:
Die dritte Extremlösung führt das Böse auf eine widergöttliche Macht zurück. Diese Antwort, die für zahlreiche Schöpfungsmythen charakteristisch ist, sucht gewöhnlich in der Deutung der Schlange einen Anhalt zu finden. Aber sie kann damit nicht berücksichtigen, dass die Schlange eindeutig als Geschöpf bezeichnet wird. (34)
Somit ist von keiner dieser drei systematischen Positionen her eine kohärente Interpretation der Sündenfallerzählung möglich. Allgemein ergibt sich: Die Sündenfallerzählung verweigert zwar eine eigene Lösung, verhält sich aber anderen Lösungsversuchen gegenüber keineswegs gleichgültig.
2.1.4 Zurückführung des Bösen auf Satan als geschaffenes Wesen:
Eine wirkungsgeschichtlich mächtige Interpretation führt das Böse auf eine teuflische Macht zurück, die allerdings selber als ursprünglich gut geschaffen interpretiert wird. Damit entspricht diese Lösung der Logik der Erzählung. Zwar zeigen exegetische Untersuchungen durchgängig, dass eine solche Deutung nicht im Horizont des Textes liegt; das ist aber auch keine notwendige Bedingung für eine systematische Deutung im hier vertretenen Sinn. So erfüllt die Satan-Deutung die Kriterien einer systematischen Deutung, die mit der Sündenfallerzählung kompatibel ist. Dennoch ist sie nicht zufriedenstellend als systematische Beantwortung des Unde-malum-Problems. Dieses Problem wird hier nämlich nicht beantwortet, sondern nur verschoben. Es wandelt sich zur Frage: Wie konnten als gut geschaffene Engel von einem guten Gott abfallen?
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2.1.5 Die dialektische Auflösung der Unde-malum-Problematik:
Die radikalste Lösung des Unde-Malum-Problems besteht in der Bestreitung des zu erklärenden Sachverhalts: Das Problem erledigt sich von vornherein, wenn es gar keinen Sündenfall gegeben hat, oder wenn sich das, was vordergründig als Sündenfall erscheint, bei näherer Prüfung oder aus einer höheren Perspektive als gar nicht schlecht erweist. (35) In dieser Richtung durchziehen dialektische Deutungen des Sündenfalls die europäische Geistesgeschichte von Francis Bacon bis Ernst Bloch und finden ihre Höhepunkte im Denken der Aufklärung und des deutschen Idealismus. (36) Der Drang nach autonomer, von Gott losgelöster Daseinsbewältigung im Essen vom Baum der Erkenntnis, die nachfolgende Erkenntnis der eigenen Nacktheit als Aufkommen des sittlichen Bewusstseins, - hier wurde der Sündenfall zum Inbegriff der Befreiung des Menschen aus dem Mutterschoß der Natur zu seiner geistigen und sittlichen Autonomie. Dass damit Komplizierungen gegeben waren, wurde wohl wahrgenommen und auch bedauert. Aber dies konnten Erscheinungen der Unreife sein, die letztendlich überwunden sein würden. Dann hätte der Mensch seine ursprüngliche Unbefangenheit wieder, - aber mit dem entscheidenden Zugewinn, ein verantwortliches Geistwesen zu sein. (37)
Auch diese Interpretation hat Anhaltspunkte im Text. Die Eigenschaften von versuchten Menschen und versuchender Schlange sowohl im Umfeld als auch in der Folge des Sündenfalls sind nach hebräischem Wortgebrauch keineswegs eindeutig negativ. (38) Dies trifft zu auf die Listigkeit der Schlange, auf den Baum der Erkenntnis, ja selbst auf die Erkenntnis der Nacktheit. Dennoch ist eine Verurteilung des Essens vom Baum der Erkenntnis als Bruch mit der vom Schöpfergott aufgestellten Ordnung - die, gegen gewisse gnostische Deutungen, eindeutig als gut angenommen wird - klare intentio operis.
Zu prüfen bleiben im Umfeld des dialektischen Lösungsmodells noch Überlegungen, die eine Schlechtigkeit des Sündenfalls zwar anerkennen, diese aber durch das daraus entstehende größere Gute als aufgewogen bewerten. Angesichts der Härten einer Gott entfremdeten Schöpfung dürften damit unvermeidlich Schatten sowohl auf die anfängliche Güte der Schöpfung als auch auf jene des Schöpfers zurückfallen. Auch wenn der Sündenfall durch ein größeres Gut mehr als wiedergutgemacht wird - eine Annahme, die zentral zum heilsgeschichtlichen Verständnis bereits der biblischen Texte gehört, allerdings nicht als Geschichtsautomatik oder als Leistung des Menschen, sondern aus Gottes Gnade (39) - bliebe zu erklären, warum der Umweg ins relativ Böse geschehen musste. Das Unde-malum-Problem bleibt also ungelöst.
2.2 Das „autopoietische" Lösungsmodell:
Ich untersuche noch ein letztes Modell, und der Leser wird schnell merken, dass ich auf dieses meine Hoffnungen zur Rettung der „Logik der Sündenfallerzählung" setze. Durch eine gewisse Konstellation von an sich guten Elementen kommt es zu einer verhängnisvollen Aufschaukelung, sodass das Böse gleichsam aus nichts heraus entsteht. Ich bezeichne diesen Lösungsansatz als „autopoietisch", denn er erinnert an die „autopoietische" Selbstorganisation von Phänomenen in komplexen Systemen, zum Beispiel an den „Schmetterlingseffekt" in der Meteorologie. (40) Demgemäß genügt in bestimmten labilen atmosphärischen Konstellationen der Flügelschlag eines Schmetterlings, um in einem anderen Kontinent einen Wirbelsturm auszulösen.
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2.2.1 Narrative Hinführung: Dostojewskijs „Traum eines lächerlichen Menschen"
Eine anschauliche Hinführung zum Gemeinten gibt die Erzählung „Der Traum eines lächerlichen Menschen" von Fedor Dostojewskij. In ihr hat Dostojewskij eine Fiktion des Sündenfalls entwickelt: Der (Anti-)Held der Erzählung ist seines Lebens überdrüssig. In der Folge erfährt der Leser von dessen Selbstmord, der sich am Ende aber als Anfang eines Traumes des eingeschlafenen Verzweifelten erweisen wird. Den Verstorbenen erwartet nicht die Verdammnis, sondern ein Paradies in Form einer prälapsarischen, jungfräulichen Welt auf einem fremden Stern. Über mehrere Seiten setzt Dostojewskij seine ganze dichterische Kraft ein, ein unschuldiges und glückliches Paradies zu entwerfen. Mitten in diesem wird der fremde Gast nun Zeuge und - zumindest erfährt er sich so - Auslöser eines Sündenfalls, der - gleichsam aus dem Nichts heraus - alles zerstört.
„Sie lernten lügen und gewannen die Lüge lieb und erkannten die Schönheit der Lüge. Oh, das begann vielleicht ganz harmlos, mit Scherz, mit Koketterie, mit verliebtem Spiel, wirklich vielleicht mit einem Atom; aber dieses Atom Lüge drang in ihre Herzen ein und gefiel ihnen. Darauf entstand schnell Sinnlichkeit; die Sinnlichkeit erzeugte Eifersucht, die Eifersucht Grausamkeit... Oh, ich weiß nicht, ich erinnere mich nicht; aber bald, sehr bald floss das erste Blut." (41)
2.2.2 Die Macht der kleinen Verschiebungen:
Vergleicht man Dostojewskijs originelle Neu-Erzählung der biblischen Sündenfallerzählung mit ihrem Original in struktureller Hinsicht, so ergeben sich erhellende Einsichten. Die Stelle der Schlange nimmt bei Dostojewskij der Selbstmörder ein - gleichsam ein gefallener Engel; aber die von diesem ausgehende Versuchung ist minimal. Er tut nichts wirklich Böses. Auch der Schlange in der biblischen Sündenfallerzählung wird man durch Dämonisierung nicht gerecht. Was sie verbricht, sind zunächst nur minimale perspektivische Verschiebungen der Wahrheit: Die Rede von Elohim anstelle von Jahwe-Elohim, die fragende Verschärfung des Verbotes: „Hat Gott wirklich gesagt, ihr dürft von keinem Baum essen?"; die Feststellung, dass die Menschen nach dem Genuss der Frucht nicht sterben werden, sondern dass ihnen die Augen aufgehen werden - das ist in gewissem Sinn sogar richtig! Zuletzt erfolgt die allerdings schwerwiegende Verfälschung des Wesens Gottes. In den Worten der Schlange finden sich kleine Verschiebungen mit extremen Konsequenzen im Gottesbild. Dass dahinter eine souveräne teuflische Verführungskunst der Schlange stünde, ist bloße Spekulation des Interpreten.
Auch bei Eva führen minimale anfängliche Verschiebungen zum Dammbruch der Gebotsübertretung: In ihrer Zurückweisung der von der Schlange formulierten Übertreibungen („von keinem Baum") bleibt etwas von einer Verschärfung hängen, die geeignet ist, das Gottesbild zu verdunkeln: Sie übernimmt die relativierende Verschiebung in der Gottesrede von „Jahwe Elohim" zu „Elohim" und erklärt, man dürfe nicht am verbotenen Baum rühren. Und in ihr wächst ein Begehren: nach der Frucht mit ihrer Schönheit und ihrem Geschmack, sowie nach der Weisheit, - ein Begehren, das in seinen Ursprüngen gewiss schöpfungsmäßig gut ist. (42)
2.2.3 Die Ambivalenz der schöpfungsmäßig guten Eigenschaften:
Die Möglichkeit solcher folgenschwerer minimaler Verschiebungen gründet in einer Ambivalenz oder Pervertierbarkeit von Eigenschaften, die durchaus auch gut sein können. J benennt die Eigenschaften der Geschöpfe, mittels derer sie zur Übertretung beitragen, und diese sind nicht einfach schlecht, wohl aber ambivalent. Beim Menschen ist es das Begehren nach Erkenntnis und ewigem Leben, in diesem Sinn das Begehren, wie Gott zu sein, sowie die sinnliche Lust, bei der Schlange die Klugheit. Keine dieser Eigenschaften ist einfachhin schlecht. (43)
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Fasst man diese exegetisch gut belegbare Ambivalenz und Verschiebbarkeit bei ursprünglicher Gutheit als Grundzug in der Konstitution der „klugen" Geschöpfe, dann lässt sich dies in jener systematischen Deutung verdichten, die ich als Ambivalenz des Wie-Gott-Seins an den Anfang des Aufsatzes gestellt habe. Diese Deutung findet bzgl. Gen 3,5 und die jahwistische Textumgebung guten Anhalt: Beim Wie-Gott-Sein geht es nicht um einzelne Eigenschaften des Menschen, sondern um seine schöpfungsmäßige dynamische Gesamtkonstitution, die in der Sehnsucht nach Erkenntnis und ewigem Leben kulminiert. Bei der Versuchung, Gut und Böse zu erkennen und zu sein wie Gott geht es mithin um einen Anspruch auf autonome Daseinsbewältigung, der in größter Nähe steht zur geschaffenen Grundkonstitution des Menschen als Wesen, das nach Erkenntnis und ewigem Leben strebt.(44)
Eine eigens zu prüfende Frage ist, ob auch P mit der Rede der Gottähnlichkeit in Gen 1,26 eine solche schöpfungsmäßige Seinsdynamik meint.
Hier gehen die exegetischen Meinungen weit auseinander. Während Westermann mit Karl Barth die Gott-Ebenbildlichkeit gerade im Verhältnis des Menschen zu Gott festmachen will, sieht Walter Gross den Bezug im Verhältnis des Menschen nicht zu Gott, sondern nur zur restlichen Schöpfung - durch einen Herrschaftsauftrag - gegeben.(45) Während eine Parallelisierung von Gen 1,26 und 3,5 gemäß Westermanns Deutung sachlich berechtigt erscheint, liegen in der Deutung von Gross offenbar inhaltliche Differenzen vor. Folgt man Gross, so ist die Ausrichtung der Gottähnlichkeit von Gen 1,26 nicht auf Gott, sondern auf die vom Menschen verschiedene Schöpfung ausgerichtet, während sich in Gen 3,5 der Anspruch, zu sein wie Gott, rivalisierend-vergleichend auf Gott richtet. Nun kann eine systematische Deutung gerade in der Verschiebung des Blickwinkels im Sein-wie-Gott vom warum-losen Wahrnehmen der damit gegebenen Würde und Verantwortung hin zu einem selbstvergewissernden Vergleichen gerade das Wesen jener minimalen Verschiebung sehen, die sich so fatal auswirkt. Insofern ist für die hier vertretene systematische Deutung des Wie-Gott-Seins die Interpretation von Gross sogar die erhellendere.
Anm.: "Das Böse" wird zu dem, "was nebenbei anfällt, oder besser zugleich",
- was dem Begriff des "Schattens" am ehesten entspricht. - A . -
2.2.5 Erste Bewertung des autopoietischen Lösungsmodells; ein Einwand:
Die bisherigen Ausführungen belegen eine hohe Kompatibilität des „autopoietischen Lösungsmodells" mit der Logik der Sündenfallerzählung. Der Ursprung des Bösen wird weder der Schöpfung noch Gott noch einer satanischen Macht zugeschoben. Überdies entspricht die „Logik der kleinen Verschiebungen" der Erzählung ebenso wie die strukturelle Eigenart, dass das Böse sich erst in Interaktion mehrerer Akteure wirklich werden kann.
Anm.: Und somit "eines Urgrundes ermangelt",, - es gibt auch hier keinerlei Hinweis auf ein "Ur-Böses". - A . -
Allerdings bleibt noch eine harte Anfrage an die Lösungskraft des Modells. Wirft die Annahme einer anfänglichen Ambivalenz nicht einen dunklen Schatten auf die Güte der Schöpfung? Damit stünde es mit diesem Modell günstigstenfalls(46) wie mit dem Modell der Rückführung auf einen Satan, der als Geschöpf Gottes begriffen wird: Die Kompatibilität mit der Sündenfallerzählung wäre zwar gegeben, aber das Unde-malum-Problem würde nicht beantwortet, sondern nur verschoben.
Anm.: Dazu muss gesagt sein, dass wir diese Güte immer wieder "erleben", - gleich, wie oft Ihr etwas widerspricht ...- A . -
Besser stünde es, wenn der Aufweis gelänge, dass die schöpfungsimmanenten Ambivalenzen nicht willkürlich sind, sondern „in der Natur der Sache" liegen, und zwar in der Natur einer einer wesentlich guten Sache. Ein solcher Aufweis soll in Hinblick auf die Freiheit der Schöpfung und im Hinblick auf die Gottebenbildlichkeit versucht werden.
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2.2.6 Die unvermeidliche Ambivalenz in der Freiheit:
Dem eben skizzierten Ausweg entspricht der traditionelle Hinweis, dass die Versuchbarkeit eine unvermeidliche Kehrseite der Freiheit des Menschen darstellt. (47) Nur wenn der Mensch sich auch frei gegen Gott entscheiden kann, ist er frei in seiner Wahl für Gott. Eine solche Argumentation wird allerdings beeinträchtigt durch den Verdacht eines reduzierten, auf bloße Wahlfreiheit eingeschränkten Freiheitsbegriffs. Hier soll eine Hilfsüberlegung aus dem menschlichen Beziehungsleben klärend sein:
Lassen wir uns dazu zunächst von der jahwistischen Erzählung leiten. Gott pflegt dort einen unwahrscheinlich intimen Umgang mit den Menschen.(48) Aber dennoch ist er nicht immer bei ihnen. Die eigentliche Problematik beim Gespräch mit der Schlange besteht in einer Verfremdung Gottes, (49) welche nur möglich ist, weil Gott sich vom Menschen ferngehalten hat. Warum tat er das ?
Gerade aus den engsten zwischenmenschlichen Bindungen - zwischen Mutter und Kleinkind - wird die Bedeutung dieses Abstandes für die werdende Freiheit deutlich. (50) Aus Bindungserfahrungen auch zwischen erwachsenen Menschen - etwa im Zustand der Verliebtheit - ist überdies einsichtig, dass der für eine gesunde Beziehung nötige Abstand für einen Liebenden manchmal nur schwer erträglich ist. Der in der frei-lassenden Beziehung notwendige Abstand bringt in die Gutheit der Beziehung ein Moment der Ambivalenz. Positiv wird er in Hoffnung getragen, negativ in Angst. (51)
2.2.7 Das Double-bind der Gottebenbildlichkeit:
Eine weitere Hilfsüberlegung, die die Unvermeidbarkeit der Ambivalenz aufweisen soll, setzt direkt beim Sein-wie-Gott an. Wenn eine überlegene Person A einer unterlegenen Person B verheißt, in allem ihr gleich zu werden, so liegt darin ein Keim des Konflikts, der als double-bind analysiert werden kann. (52) Dies lässt sich eindrucksvoll an einer bestimmten Lehrer-Schüler-Konstellation veranschaulichen:
Man denke an einen Schüler der seinen Lehrer leidenschaftlich verehrt. Der Schüler wird seinen Meister als vollkommenes Vorbild nachahmen, und seine größte Sehnsucht wird darin bestehen, wie er zu werden. Dies befähigt ihn zu höchsten Leistungen, und das wiederum wird den Lehrer dazu motivieren, sein Bestes zu geben. Diese ideale Konstellation kann allerdings durch geringe Verschiebungen nachhaltig pervertiert werden. Nehmen wir an, der Lehrer beginnt, sich von den Ambitionen des Schülers bedroht zu fühlen. So geht er auf vorsichtige Distanz. Der arglose Schüler wird dadurch irritiert werden. Er wird den Grund für die Zurückhaltung des Lehrers im eigenen Ungenügen suchen und seine Anstrengungen nochmals steigern. Dadurch verstärkt er aber gerade die Reserviertheit des Lehrers. So wird ein Teufelskreis in Gang gesetzt, der die vielversprechende Lehrer-Schüler-Beziehung schließlich zerstört.
Übertragen wir diese Überlegungen auf das Verhältnis zwischen Schöpfergott und dem Menschen, der von Gott nach seinem Bild als dynamische Existenz geschaffen wurde.
In Übertragung des obigen Beispiels müsste der erste Anfang des Konflikts nun darin bestehen, dass Gott beginnt, sich von den Ambitionen des Menschen bedroht zu fühlen. Das entspricht der Sichtweise der Schlange vom neidischen Gott. Die Dynamik des Misstrauens kann aber auch von seiten des Schülers ausgelöst werden. Diesem kann nämlich an einem bestimmten Punkt der Verdacht kommen, dass der Lehrer ihm etwas Entscheidendes aus Neid vorenthält. (53) Und selbst dieser Verdacht genügt bereits, dass das Verhalten des Lehrers ins Zwielicht gerät. So kann eine Spirale des Misstrauens auch ganz von seiten des Schülers ausgelöst werden. Der Lehrer hat dann keine Chance mehr.
Dies ist nun das Szenario, das für eine systematische Deutung der Sündenfallerzählung geeignet ist: Das Sein-wie-Gott, das Gott dem Menschen mitgibt, ist grundsätzlich grenzenlos. Da ist nichts, was der grenzenlos liebende Gott dem Menschen vorenthalten will.
Und doch gibt es einen entscheidenden Punkt, in dem der Mensch Gott niemals einholen können wird. Selbst wenn der Mensch alles von Gott empfangen hat, so bleibt doch der Unterschied, dass Gott es gegeben und der Mensch es empfangen hat, dass Gott Urbild und der Mensch Abbild ist.
Der unschuldig-unbefangene Blick wird auf diese Differenz niemals aufmerksam werden. Er wird sich an den von Gott gegebenen Gütern freuen und sie ihm danken. Es bedarf aber nur der kleinen Verschiebung, dass der Mensch den Blick vergleichend-abmessend auf sich und auf Gott richtet, dass die Verheißung, zu sein wie Gott, zur abgründigen Versuchung wird: dass der Mensch sich nämlich von Gott das holen will, was Gott dem Menschen nicht geben kann: nämlich die Unverdanktheit, das „Aus-sich-selber".
Über diese „Frucht" zu verfügen wäre gleichzeitig - und zwar eo ipso - der Verlust von allem, was Gott dem Menschen gnädig gewährt hat. Es ist Teil seiner Wahl, dass er es nun „im Schweiße seines Angesichts" selber der Erde abringen muss.
Im Rahmen dieses Modells ist eine systematische Deutung von Elementen aus der Sündenfallerzählung möglich, die - wenn unerklärt - dunkle Schatten auf den guten Schöpfergott werfen:
(1) der verbotene Baum: Dass Gott einen verbotenen Baum in den Garten setzt, ist gemäß unserer systematischen Deutung kein Willkürakt, sondern symbolisiert eine zwangsläufige, in der Natur der Sache liegende Begrenzung von Gottes Ansinnen, mit dem Menschen alles zu teilen, d.h. ihn ganz zu seinem Ebenbild zu machen.
(2) Nacktheit und Klugheit: Semantische Analysen weisen auf die lautliche Ähnlichkeit der hebräischen Worte für „nackt" und für „klug" hin.(54) Die Nacktheit - gemäß der lautlichen Ähnlichkeit: nackt(/klug) - ist eine schöpfungsmäßige Grundgegebenheit für die Menschen, die vor dem Sündenfall noch als problemlos und erst in der Folge des Sündenfalls als seinsmindernd erfahren wird. Dazwischen steht die Versuchung der Schlange, die klug(/nackt) ist und eine Klugheit verspricht, die sich in der Folge der Übertretung als eine ihrer selbst gewisse Nacktheit entpuppen wird.
Gemäß unserer systematischen Deutung lässt sich die wesentliche und grundsätzlich unüberwindbare Differenz zwischen Gott und Mensch, nämlich dass Gott seine Seinsfülle aus sich hat und der Mensch seine Seinsfülle einem anderen verdankt, der biblischen Rede von der Nacktheit zuordnen. Die so verstandene Nacktheit ist vor dem Sündenfall eine unbewusste und unproblematische: Der Mensch hat selbstverständlich an den Gütern Gottes und seiner Souveränität teil (der Namengebung und dem Herrschen über die andere Schöpfung); die Differenz bleibt ohne Beachtung und auch ohne Bedeutung.
Damit ist auch eine Klugheit gegeben, die sich aber noch nicht auf den Punkt der wesentlichen Differenz zwischen Gott und Mensch richtet. Die Schlange, als ein Wesen „klüger als die alle Tiere des Feldes" steht einem solchen kritischen Wissen näher. Das zeigt sich in ihrer Rede, die die Aufmerksamkeit auf einen direkten Vergleich zwischen der Seinsfülle Gottes und der Geschöpfe richtet und dabei einen Vorteil Gottes ausmacht, den Gott eifersüchtig wahren wolle. Die Übertretung (der Genuss der Frucht vom Baum der Erkenntnis) ebnet in gewisser Hinsicht die Differenz tatsächlich ein.
Nun hat auch der Mensch - so wie Gott - etwas aus sich allein, - etwas, das er also nicht einem anderen, nicht Gott verdankt. Dies kann aber paradoxerweise nur sein Wissen um die Uneinholbarkeit des göttlichen Vorsprungs sein.
Nur das Wissen, "nicht-Gott zu sein", - und zwar in seinem Modus als erfahrene Seinsminderung - hat der Mensch nicht von Gott, sondern aus eigenem. Damit hat er zugleich etwas, was Gott nicht hat, was Gott sozusagen fremd ist, und auf das er stolz und eifersüchtig pochen kann: indem er sich weigert, sich von Gott beschenken zu lassen.
(3) Strafen auf den Sündenfall (Mühsal der Arbeit und Vertreibung aus dem Paradies): Die vorausgehenden Überlegungen führen unmittelbar zu einer Interpretation der Strafen aus dem Sündenfall:
"Wenn der Mensch sich nicht mehr fraglos von Gott beschenken lassen will, so muss er sich die Güter mühsam aus eigener Kraft beschaffen". Der Verlust des Paradieses ist nicht von Gott willkürlich verfügt, sondern liegt direkt in der Konsequenz des Sündenfalls, es ist Teil der in ihm erfolgten Wahl. (55)
In großer Näher zur hier unternommenen systematischen Deutung steht die Interpretation des Literaturwissenschaftlers David Damrosch. Er stellt fest, dass eine monotheistische Lösung der Sündenfallproblematik (interpretiert als existentielles Entfremdungsproblem) die Ansätze der Entfremdung nur aus der ursprünglichen Gottähnlichkeit heraus gewinnen kann. (56)
Anfängliche kleine Differenzen verschieben sich zu immer größeren; in ähnlicher Weise wie hier durchgeführt betont Damrosch die Macht der kleinen Verschiebungen und die Ambivalenzen.
Ein entscheidender Unterschied liegt allerdings in Damroschs Erklärung des ersten, infinitesimalen Ursprungs der Irritationen: erster Ansatzpunkt ist für ihn ein Mangel Gottes; um diesen zu überwinden, hat er sich in Adam ein Ebenbild geschaffen. Damit spiegelt sich aber der Mangel Gottes in der Gestalt des ihm ähnlichen Adam ab: Wie Gott einen Adam braucht, so braucht Adam eine Eva. Der Mangel wird somit nicht wirklich überwunden, sondern nur weiterverschoben.
Gott "korrigiert seine Schöpfung durch die Erschaffung Evas". Sie, als Symbol für einen nicht bewältigten, sondern nur verschobenen anfänglichen Mangel, wird zur Einbruchsstelle des Sündenfalls, d.h. der Entfremdung zwischen Schöpfung und Gott.
In Damroschs Interpretation steht Gott selber im Zwielicht.
Im Unterschied dazu versteht die christliche Theologie Gottes Schöpfung als freie Initiative, die frei von jedem Mangel ist.
Die Defizienz entsteht allein auf seiten der Schöpfung und ist damit nicht tragisch festgeschrieben, sondern "grundsätzlich erlösbar".
Die hier vorgelegte systematische Deutung ist mit einer solchen Sicht kompatibel.
Was ist das Ergebnis? Wir haben eine systematische Antwort auf die Frage nach dem „unde malum" versucht, d.h. auf die Frage, wie in einer guten Schöpfung von einem guten und allmächtigen Gott das Böse im Sinn einer freiwillentlichen Entfremdung des Menschen gegenüber dem Schöpfer einbrechen konnte.
Dazu wurde ein „autopoietisches" Modell vorgeschlagen, in dem sich das Böse in Interaktion zwischen mehreren Beteiligten gleichsam aus nichts aufschaukelt.
Am Anfang steht eine gute, aber in wesentlichen Punkten labile Schöpfung. Durch zwei Überlegungen wurde gezeigt, dass solche anfängliche Labilität keine willkürliche Beeinträchtigung der Schöpfung ist, sondern zwangsläufig gegeben ist.
Diese Überlegungen bezogen sich auf die unterschiedlich wahrnehmbare Distanz in freier Gemeinschaft, sowie auf die double-bind-Gefahr im Verhältnis zwischen Urbild und Abbild.
Die letztgenannte Überlegung ermöglichte überdies eine systematische Deutung einiger schwieriger Elemente der Sündenfallerzählung.
Das so entwickelte Modell entspricht der Logik der Sündenfallerzählung, oder genauer: es stellt einen kohärenten logischen Zusammenhang her zwischen verschiedenen zentralen Aussagen der Erzählung, die relevant sind für "die Frage nach dem Ursprung des Bösen".
Diese Aussagen waren negativer Art: nämlich "dass das Böse weder in der Schöpfung noch im Schöpfer noch in einer ungeschaffenen dämonischen Macht wurzelt".
Für die systematische Deutung habe ich ein „autopoietisches Modell" vorgeschlagen. Gemäß der hier vertretenen Position kann dieses Modell nicht als innerhalb der intentio operis liegend bezeichnet werden. Es ist vielmehr ein eigenständiges Modell, das aber der Logik der Erzählung entspricht. Auch wenn dieses Modell damit nicht im engen Sinn zur Interpretation des biblischen Textes gehört, ist es doch für eine adäquate Interpretation hilfreich: Dadurch dass sie die widerspruchsfreie Akzeptanz aller genannten Vorgaben erlaubt, wird eine unvoreingenommene Interpretation möglich, - und zwar auch für Menschen, denen die Frage nach dem „unde malum" bereits so in den Knochen steckt, dass sie sich ihr nicht mehr zu entziehen vermögen.
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"Die Erlösung kann nicht verdient, nur empfangen werden, - darum ist sie die Erlösung". -
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Aus: http://diepresse.com/home/science/517385/index.do
Nachrichtenüberblick,
Psychologie: Das Böse in uns allen:
24.10.2009 | 18:46 | von ERICH KOCINA (Die Presse)
Gerichtspsychiater Reinhard Haller hat einen Blick in die Gehirne von Verbrechern geworfen. Das Böse kommt oft in ganz normaler Gestalt. Laut Haller steckt in uns allen so etwas wie ein Moralinstinkt.
Aus dem Archiv:
* Uni Wien: Mentoring-Projekt gegen Drop-outs (20.12.2009)
* Kambodscha: „Stolz darauf zu vernichten“ (23.11.2009)
* Wie frei ist unser Wille? (25.09.2009)
* Haller: „Derzeit haben wir zu viel Durchschnitt in der Politik“ (28.07.2009)
* Psychiater Haller: „Kein Mensch ist nur böse“ (15.03.2009)
"Von dem hätte ich das nie geglaubt.“ Eine immer wieder gehörte, fast schon gesetzmäßige Reaktion, wenn ein grausames Verbrechen von jemandem in unserer unmittelbaren Umgebung verübt wird. Und ein Satz, der die Fassungslosigkeit ausdrückt – dass ein Mensch, den man im Alltag erlebt, der auf der Straße immer so freundlich gegrüßt hat, plötzlich als Bestie dasteht. Und auch ein Satz, der schmerzhaft vor Augen führt, dass das Böse allzu oft in ganz normaler, geradezu unauffälliger Gestalt daherkommt.
Als zwei Burschen im Schweizer Tessin etwa, die gerade noch friedlich mit der Familie zu Abend essen – und kurz darauf ein Mädchen fesseln, zwei Erwachsene brutal ermorden. Kein gehörnter Teufel, kein wilder Dämon, keine abnorme Bestie – es sind häufig Menschen wie du und ich, die auf einmal für uns das Böse verkörpern. Und ein unangenehmes Warnsignal, dass auch wir selbst nicht davor gefeit sind, zum Verbrecher zu werden.
Ganz normal. „Das Böse ist im Menschen vorhanden wie das Gute“, sagt Gerichtspsychiater Reinhard Haller. Und es braucht einfach nur bestimmte Bedingungen, unter denen es auch freigesetzt wird. In seinem neuen Buch „Das ganz normale Böse“ schildert Haller aus seinen Gesprächen mit Serienkillern, Sexualmördern, Terroristen, Räubern oder Kinderschändern, wie es dazu kommt, welche Mechanismen wirksam werden, um einen Menschen grausame Taten vollbringen zu lassen. Dass viele von ihnen nach außen hin unauffällig waren. Dass man ihnen eine solche Tat eigentlich nie zugetraut hätte. Doch in ihrem Inneren stieß er immer wieder auf psychologisch höchst auffällige Bilder – auf erlittene Kränkungen, Selbstzweifel, Depressionen, manchmal auch falsch antrainierte Reflexe: „Und manche haben dann das Pech, dass viele dieser Dinge zusammenkommen.“
„Mein Hirn hat falsch getickt“, „In mir muss etwas Krankes abgelaufen sein“ – Begründungen wie diese hat Haller oft gehört. Böse? Oder einfach krank? Der Fall von Joseph Whitman, der 1966 an der Universität von Austin, Texas, 17 Menschen erschossen und 66 verletzt hat, lässt eben diese Frage offen. Bei seiner Obduktion wurde zwar ein Tumor in genau jenem Bereich des Gehirns gefunden, der bei starken Hassgefühlen aktiv wird, doch, so Haller: „Andere, die denselben Tumor haben, rasten nicht aus.“ Letztlich ist ein Begriff entscheidend – der freie Wille.
Und doch gibt es Situationen, in denen selbst der Gesetzgeber diese Konvention aussetzen lässt – im Vollrausch, im Affekt, bei Schwachsinn. Doch für Richter, Geschworene, selbst für den ausgebildeten Mediziner ist es immer eine Gratwanderung zu erkennen, wie sehr der freie Wille durch äußere Einflüsse oder Krankheit beeinflusst wird. „Es ist manchmal gar nicht möglich, das präzise zu sagen.“
Verständnis für Verbrechen. Und auch die Umstände, warum jemand ausrastet, spielen eine Rolle. Der Vierfachmörder von Strasshof etwa, der am 1.Juli 2008 seine Schwester, seinen Bruder und deren Ehepartner erschossen hatte, bekam mit 20 Jahren Haft eine verhältnismäßig milde Strafe. Und das, obwohl er sich im Prozess zwar geständig, jedoch nicht reuig gab: „Ich schlafe jetzt viel besser“, erklärte er. Und dennoch zeigten die Geschworenen Verständnis für seine Tat: Seine Familie habe ihn jahrelang bösartig behandelt, verleumdet, sogar – ohne jegliche Grundlage – als Kinderschänder denunziert. Das entschuldige die Tat zwar nicht, erwecke aber ein gewisses Verständnis für die Motivlage des Täters.
Aber auch zeitliche und kulturelle Faktoren spielen eine Rolle – die Messlatte, was verwerflich ist, ist nicht immer gleich hoch. Klar, durch alle Gesellschaften und Kulturen zieht sich eine Art Grundkonsens der Dinge, die als böse betrachtet werden. Mord, Vergewaltigung, Diebstahl etwa gelten unabhängig von jeder rechtlichen und religiösen Bewertung als böse. Doch betrachtet man etwa Pädophilie, heute eines der meistgeächteten Verbrechen, sieht die Sache schon anders aus. In manchen Kulturen galt und gilt sie als normal. Im antiken Griechenland gehörten sexuelle Beziehungen zu Knaben sogar zum guten Ton.
Böse Mitläufer. Und wie muss das Böse beurteilt werden, wenn ein System den Begriff pervertiert? Wenn etwa Menschen das verquere Weltbild vermittelt wird, es gebe so etwas wie „unwertes Leben“? Dieser Logik folgend könnte man argumentieren, dass den Tätern ja gar nicht bewusst gewesen sein könnte, dass sie Böses tun, ja, dass sie sogar im Gegenteil mit der grausamen Ermordung von Juden, sogenannten Zigeunern oder Homosexuellen etwas Gutes tun.
„Die Mittäter sind damals dem Effekt unterlegen, dass Böses autorisiert war“, sagt Haller. Man weiß, dass etwas böse ist, aber tut es trotzdem – die Verantwortung wird einer höheren Instanz zugeschrieben. Und mit dieser Instanz im Rücken kann man dem in sich schlummernden Bösen plötzlich freien Lauf lassen. Ein Effekt, der durch das Milgram-Experiment eindrucksvoll nachgewiesen werden konnte – Versuchspersonen teilten bereitwillig starke Stromstöße an Opfer aus, weil ihnen von (nicht echten) Wissenschaftlern gesagt wurde, dies sei Teil eines Versuchs. Und das Experiment wolle man ja wohl nicht scheitern lassen.
Moralinstinkt. Ist das Böse also ein Teil des Menschseins, der nach außen dringt, sobald man ihm die Gelegenheit dazu lässt? Nein, denn laut Haller steckt in uns allen so etwas wie ein Moralinstinkt, der uns sagt, was gut und was böse ist. Dass es ihn gibt, und dass es auch Menschen gibt, die ihn unter Druck nicht einfach ausschalten, das beweisen unter anderem jene Menschen, die in der NS-Zeit abgelehnt haben, an Gräueltaten mitzuwirken. Selbst, wenn sie dafür geächtet, bestraft oder gar getötet wurden.
Doch wie sah es in den Köpfen jener Menschen aus, die all die Gräueltaten entworfen oder aus dem Hintergrund gesteuert haben? Konnte man in ihren Gehirnen irgendetwas lokalisieren, das sie als böse erkennbar machte? Nein. Die Untersuchungen der Hauptkriegsverbrecher vor dem Nürnberger Tribunal ergaben keine Hinweise auf Störungen oder psychische Krankheit, schreibt Haller. Mehreren erfahrenen Psychologen wurden ihre Psychotests anonymisiert vorgelegt – ihre Einschätzungen der Charaktere reichten von Bürgerrechtlern bis zu Intellektuellen. Von außen betrachtet also ganz normale Menschen. Die auf der Straße womöglich freundlich gegrüßt haben. Und von denen man vielleicht sogar gesagt hätte: „Von dem hätte ich das nie geglaubt.“
Reinhard Haller: „Das ganz normale Böse.“ 224 Seiten, Ecowin Verlag, 19,95 Euro
("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2009)
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"Die Erlösung kann nicht verdient, nur empfangen werden, - darum ist sie die Erlösung". -
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Aus: http://www.textlog.de/32906.html
Rudolf Eisler,
Böse:
Böse, das (Bösartigkeit, Bosheit). Im Gegensatz zu dem Übel, das sich auf unsere Sinnlichkeit und das Gefühl der Lust und Unlust bezieht, hat das Böse (wie das Gute) "jederzeit eine Beziehung auf den Willen, sofern dieser durchs Vernunftgesetz bestimmt wird, sich etwas zu seinem Objekte zu machen", KpV 1. T. 1. B. 2. H. (II 78). Im Menschen besteht ein radikales Böses, ein in seiner Gattung wurzelnder Hang, von der Maxime der Sittlichkeit abzuweichen, obzwar er sich ihrer bewußt ist.
- Der subjektive Grund des Bösen im Menschen kann, wenn ihm dieses zugerechnet werden soll, kein bloßer "Naturtrieb", sondern nur eine "Maxime" sein, d. h. "eine Regel, die die Willkür sich selbst für den Gebrauch ihrer Freiheit macht". "Wenn wir also sagen: der Mensch ist von Natur gut, oder: er ist von Natur böse, so bedeutet dieses nur soviel als: er enthält einen (uns unerforschlichen) ersten Grund der Annehmung guter oder der Annehmung böser (gesetzwidriger) Maximen, und zwar allgemein als Mensch, mithin so, daß er durch dieselbe zugleich den Charakter seiner Gattung ausdrückt."
Das Gute und Böse ist der Anlage nach "angeboren", aber nicht die Natur ist daran schuld, wenn der Mensch (als Gattung) böse ist, sondern der Mensch ist als Urheber des Bösen selbst schuld. Bloß in dem Sinne heißt das Böse (und Gute) "angeboren", als es "vor allem dem in der Erfahrung gegebenen Gebrauche der Freiheit (in der frühesten Jugend bis zur Geburt zurück) zum Grunde gelegt wird und so als mit der Geburt zugleich im Menschen vorhanden vorgestellt wird; nicht daß die Geburt eben die Ursache davon sei", Rel. 1. St. (IV 19 f.).
Der "erste subjektive Grund der Annehmung moralischer Maximen" ist, weil diese Annehmung "frei", nicht durch die Natur bedingt ist, unerforschlich, ibid. 3. Anm. (IV 20). Das Böse liegt in einer "Widerstrebung" gegen das Gesetz, ibid. Anmerk. 1. Anm. (IV 21); der Aufnahme dieser Triebfeder und der Abweichung vom moralischen Gesetze in die Maxime des Menschen, ibid. Anmerk. (IV 23). "Die eine oder die andere Gesinnung als angeborene Beschaffenheit von Natur haben, bedeutet hier auch nicht, daß sie von dem Menschen, der sie hegt, gar nicht erworben, d. i. er nicht Urheber sei; sondern, daß sie nur nicht in der Zeit erworben sei (daß er eines oder das andere von Jugend auf sei immerdar.
Die Gesinnung, d. i. der erste subjektive Grund der Annehmung der Maximen, kann nur eine einzige sein und geht allgemein auf den ganzen Gebrauch der Freiheit. Sie selbst aber muß auch durch freie Willkür angenommen worden sein, denn sonst könnte sie nicht zugerechnet werden. Von dieser Annehmung kann nicht wieder der subjektive Grund oder die Ursache erkannt werden. Weil wir also diese Gesinnung oder vielmehr ihren obersten Grund nicht von irgend einem ersten Zeit-Aktus der Willkür ableiten können, so nennen wir sie eine Beschaffenheit der Willkür, die ihr (ob sie gleich in der Tat in der Freiheit gegründet ist) von Natur zukommt", ibid. (IV 24).
Der "Hang zum Bösen" ist ein natürlicher Hang. Aus dem natürlichen Hange (s. d.) entspringt überhaupt Fähigkeit oder Unfähigkeit der Willkür, das moralische Gesetz in seine Maxime aufzunehmen oder nicht, das "gute oder böses Herz". "Man kann sich drei verschiedene Stufen desselben denken. Erstlich ist es die Schwäche des menschlichen Herzens in Befolgung genommener Maximen überhaupt oder die Gebrechlichkeit der menschlichen Natur; zweitens der Hang zur Vermischung unmoralischer Triebfedern mit den moralischen (selbst wenn es in guter Absicht und unter Maximen des Guten geschähe), d. i. die Unlauterkeit; drittens der Hang zur Annehmung böser Maximen, d. i. die Bösartigkeit der menschlichen Natur oder des menschlichen Herzens."
Diese Bösartigkeit oder "Verderbtheit (corruptio)" ist "der Hang der Willkür zu Maximen, die Triebfeder aus dem moralischen Gesetz, anderen (nicht moralischen) nachzusetzen". "Sie kann auch die Verkehrtheit (perversitas) des menschlichen Herzens heißen, weil sie die sittliche Ordnung in Ansehung der Triebfedern einer freien Willkür umkehrt und, obzwar damit noch immer gesetzlich gute (legale) Handlungen bestehen können, so wird doch die Denkungsart dadurch in ihrer Wurzel (was die moralische Gesinnung betrifft) verderbt und der Mensch darum als böse bezeichnet." Was nicht aus dem Glauben geschieht, daß das moralische Gesetz zur Triebfeder allein hinreicht, ist "Sünde" (der "Denkungsart nach").
"Denn wenn andere Triebfedern nötig sind, die Willkür zu gesetzmäßigen Handlungen zu bestimmen, als das Gesetz selbst (z. B. Ehrbegierde, Selbstliebe überhaupt, ja gar gutherziger Instinkt, dergleichen das Mitleid ist), so ist es bloß zufällig, daß diese mit dem Gesetze übereinstimmen; denn sie könnten ebensowohl zur Übertretung antreiben. Die Maxime, nach deren Güte aller moralische Wert der Person geschätzt werden muß, ist also doch gesetzwidrig, und der Mensch ist bei lauter guten Handlungen dennoch böse." Ein Hang zum Bösen kann nur dem "moralischen Vermögen" der Willkür anhaften. Sittlich (d. h. zurechnungsfähig) böse ist nur, "was unsere eigene Tat ist". Der Hang geht der Tat vorher; er selbst ist nur "Tat" im Sinne der freien Aufnahme der obersten Maxime in die Willkür ("peccatum originarium"), und zugleich "der formale Grund aller gesetzwidrigen Tat" (des Lasters, "peccatum derivativum").
Die "erste Verschuldung" ist "intelligibele Tat, bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar", während die Tat selbst "sensibel, empirisch, in der Zeit gegeben (factum phaenomenon)" ist, Rel. 1. St. II (IV 29 ff.). "Der Satz: der Mensch ist böse, kann nach dem Obigen nichts anderes sagen wollen als: er ist sich des moralischen Gesetzes bewußt und hat doch die (gelegentliche Abweichung von demselben in seine Maxime aufgenommen. Er ist von Natur böse, heißt soviel als: dieses gilt von ihm in seiner Gattung betrachtet." Da der subjektive oberste Grund aller Maximen mit der Menschheit selbst "verwebt und darin gleichsam gewurzelt ist", so ist dieser natürliche Hang zum Böse als selbstverschuldet "ein radikales, angeborenes (nichtsdestoweniger aber uns von uns selbst zugezogenes) Böse in der menschlichen Natur", ibid. III (IV 32 f.).
Der Grund des Bösen liegt weder in der Sinnlichkeit und den Neigungen allein noch in einer "Verderbnis der moralisch-gesetzgebenden Vernunft". Der Mensch hat keine gleichsam "boshafte" Vernunft, keinen schlechthin bösen Willen, wie ihn ein teuflisches Wesen hätte; er tut auf das moralische Gesetz "nicht gleichsam rebellischerweise" Verzicht. Der Unterschied, ob der Mensch gut oder böse sei, kann "nicht in dem Unterschiede der Triebfedern, die er in seine Maxime aufnimmt (nicht in dieser ihrer Materie), sondern in der Unterordnung (der Form derselben) liegen: welche von beiden er zur Bedingung der anderen macht. Folglich ist der Mensch (auch der beste) nur dadurch böse, daß er die sittliche Ordnung der Triebfedern, in der Aufnehmung derselben in seine Maximen, umkehrt: das moralische Gesetz zwar neben dem der Selbstliebe in dieselbe aufnimmt; da er aber inne wird, daß eines neben dem anderen nicht bestehen kann, sondern eins dem anderen als seiner obersten Bedingung untergeordnet werden müsse, er die Triebfedern der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht, da das letztere vielmehr als die oberste Bedingung der Befriedigung der ersteren in die allgemeine Maxime der Willkür als alleinige Triebfeder aufgenommen werden sollte."
"Dieses Böse ist radikal, weil es den Grund aller Maximen verdirbt." Es ist nicht zu "vertilgen", aber zu "überwiegen". Die Bösartigkeit der menschlichen Natur ist nicht sowohl "Bosheit" als "Verkehrtheit" des Herzens, die mit einem im allgemeinen guten Willen zusammen bestehen kann; sie entspringt zunächst aus der Gebrechlichkeit der menschlichen Natur, zur Befolgung seiner genommenen Grundsätze nicht stark genug zu sein. Diese "angeborene" Schuld (reatus) ist in ihren ersten zwei Stufen "unvorsätzlich'' (culpa), in der dritten aber "vorsätzliche Schuld" (dolus) und hat zu ihrem Charakter eine "gewisse Tücke des menschlichen Herzens (dolus malus), sich wegen seiner eigenen guten oder bösen Gesinnungen selbst zu betrügen". Der Ausspruch des Apostels: "Es ist hier kein Unterschied, sie sind allzumal Sünder" ist richtig, ibid. (IV 36—41). Der Ursprung (s. d.) des Bösen ist nicht ein "Zeitursprung", sondern ein (zeitloser) Vernunftursprung"; er kann nicht von einem vorhergehenden Zustande abgeleitet werden. "Von den freien Handlungen als solchen den Zeitursprung (gleich als von Naturwirkungen) zu suchen, ist also ein Widerspruch; mithin auch von der moralischen Beschaffenheit des Menschen, sofern sie als zufällig betrachtet wird, weil diese den Grund des Gebrauchs der Freiheit bedeutet, welcher (so wie der Bestimmungsgrund der freien Willkür überhaupt) lediglich in Vernunftvorstellungen gesucht werden muß."
"Eine jede böse Handlung muß, wenn man den Vernunftursprung derselben sucht, so betrachtet werden, als ob der Mensch unmittelbar aus dem Stande der Unschuld in sie geraten wäre. Denn wie auch sein voriges Verhalten gewesen sein mag, und welcherlei auch die auf ihn einfließenden Naturursachen sein mögen, imgleichen ob sie in oder außer ihm anzutreffen seien: so ist seine Handlung doch frei und durch keine dieser Ursachen bestimmt, kann also und muß immer als ein ursprünglicher Gebrauch seiner Willkür beurteilt werden. Er sollte sie unterlassen haben, in welchen Zeitumständen und Verbindungen er auch immer gewesen sein mag; denn durch keine Ursache in der Welt kann er aufhören, ein frei handelndes Wesen zu sein." Ist jemand bis zu einer unmittelbar bevorstehenden freien Handlung noch so böse gewesen, "so ist es nicht allein seine Pflicht gewesen, besser zu sein, sondern es ist jetzt noch seine Pflicht, sich zu bessern; er muß es also auch können und ist, wenn er es nicht tut, der Zurechnung in dem Augenblicke der Handlung ebenso fähig und unterworfen, als ob er, mit der natürlichen Anlage zum Guten (die von der Freiheit unzertrennlich ist) begabt, aus dem Stande der Unschuld zum Bösen übergeschritten wäre."
Der Vernunftursprung des Bösen selbst bleibt uns unerforschlich; wir wissen nicht, woher das moralische Böse in uns zuerst gekommen sein könne, ibid. IV (IV 41—46). "Was der Mensch im moralischen Sinne ist oder werden soll, gut oder böse, dazu muß er sich selbst machen oder gemacht haben. Beides muß eine Wirkung seiner freien Willkür sein; denn sonst könnte es ihm nicht zugerechnet werden, folglich er weder moralisch gut noch böse sein." Bedarf es zur Besserung einer übernatürlichen Mitwirkung, so muß sich der Mensch doch "vorher würdig machen, sie zu empfangen". Wie es möglich sei, daß ein natürlicherweise böser Mensch sich selbst zum guten Menschen mache, übersteigt alle unsere Begriffe.
Da er aber besser werden soll, so muß es auch werden können. Vorausgesetzt muß nur werden, "daß ein Keim des Guten in seiner ganzen Reinigkeit übrig geblieben, nicht vertilgt oder verderbt werden konnte", nämlich die Achtung fürs moralische Gesetz. Es bedarf nur der Widerhersteilung der Reinheit der sittlichen Maxime, die Herstellung der rechten Ordnung der Maximen. Dazu ist eine "Herzensänderung" nötig. Um ein moralisch guter (Gott wohlgefälliger) Mensch, d. h. "tugendhaft nach dem intelligiblen Charakter" zu werden, genügt nicht eine allmähliche "Reform", solange die Grundlage der Maximen unlauter bleibt, sondern "muß durch eine Revolution in der Gesinnung im Menschen (einen Übergang zur Maxime der Heiligkeit derselben) bewirkt werden; und er kann ein neuer Mensch nur durch eine Art von Wiedergeburt, gleich als durch eine neue Schöpfung (Ev. Joh. III, 5; verglichen mit 1. Mos. I, 2) und Änderung des Herzens werden", ibid. Allg. Anmerk. (IV 47—51).
Diese Revolution ist für die "Denkungsart", die allmähliche Reform aber für die "Sinnesart" des Menschen notwendig und möglich. "Das ist: wenn er den obersten Grund seiner Maximen, wodurch er ein böser Mensch war, durch eine einzige unwandelbare Entschließung umkehrt (und hiermit einen neuen Menschen anzieht), so ist er sofern, dem Prinzip und der Denkungsart nach, ein fürs Gute empfängliches Subjekt; aber nur in kontinuierlichem Wirken und Werden ein guter Mensch: d. i. er kann hoffen, daß er bei einer solchen Reinigkeit des Prinzips, welches er sich zur obersten Maxime seiner Willkür genommen hat, und der Festigkeit desselben, sich auf dem guten (obwohl schmalen) Wege eines beständigen Fortschreitens vom Schlechten zum Besseren befinde."
"Hieraus folgt, daß die moralische Bildung des Menschen nicht von der Besserung der Sitten, sondern von der Umwandlung der Denkungsart und von der Gründung eines Charakters anfangen müsse", ibid. (IV 51 f.). Das Gefühl der Erhabenheit unserer sittlichen Bestimmung und der Heiligkeit der Pflicht (s. d.) wirkt dem Hang zum Bösen entgegen, "um in der unbedingten Achtung fürs Gesetz, als der höchsten Bedingung aller zu nehmenden Maximen, die ursprüngliche sittliche Ordnung unter den Triebfedern und hiermit die Anlage zum Guten im menschlichen Herzen in ihrer Kernigkeit wiederherzustellen".
"Der Satz vom angeborenen Bösen ist in der moralischen Dogmatik von gar keinem Gebrauch; denn die Vorschriften derselben enthalten ebendieselben Pflichten und bleiben auch in derselben Kraft, ob ein angeborener Hang zur Übertretung in uns sei oder nicht. In der moralischen Asketik aber will dieser Satz mehr, aber doch nichts mehr sagen als: wir können in der sittlichen Ausbildung der anerschaffenen moralischen Anlage zum Guten nicht von einer uns natürlichen Unschuld den Anfang machen, sondern müssen von der Voraussetzung einer Bösartigkeit der Willkür in Annehmung ihrer Maximen der ursprünglichen sittlichen Anlage zuwider anheben und, weil der Hang dazu unvertilgbar ist, mit der unablässigen Gegenwirkung gegen denselben. Da dieses nun bloß auf eine ins Unendliche hinausgehende Fortschreitung vom Schlechten zum Besseren führt, so folgt: daß die Umwandlung der Gesinnung des bösen in die eines guten Menschen in der Veränderung des obersten inneren Grundes der Annehmung aller seiner Maximen dem sittlichen Gesetze gemäß zu setzen sei, sofern dieser neue Grund (das neue Herz) nun selbst unveränderlich ist", ibid. (IV 54 ff.).
Um ein moralisch guter Mensch zu werden, genügt es nicht, den Keim des Guten in uns sich ungehindert entwickeln zu lassen, sondern die positive Ursache des Bösen in uns muß bekämpft werden, aber nicht, wie die Stoiker meinten, bloß die "Torheit", sondern die "Bosheit" des menschlichen Herzens, die "mit seelenverderbenden Grundsätzen die Gesinnung insgeheim untergräbt", Rel. 2. St. am Anf. (IV 62 f.). Böse sind nicht die Neigungen (s. d.) an sich, sondern "das eigentliche Böse .. besteht darin, daß man jenen Neigungen, wenn sie zur Übertretung anreizen, nicht widerstehen will, und diese Gesinnung ist eigentlich der wahre Feind", ibid. 1. Anm. (IV 62). "Nur das Moralisch-Gesetzwidrige ist an sich selbst böse, schlechterdings verwerflich und muß ausgerottet werden", ibid. (IV 63).
Der Mensch soll der Idee der "Gott wohlgefälligen Menschheit" sich annähern (s. Christentum). Das kann, zeitlich, nur als "kontinuierlicher Fortschritt von mangelhaftem Guten zum Besseren ins Unendliche" gedacht werden, welcher Fortschritt von einem "Herzenskündiger" in seiner "intellektuellen Anschauung" als ein vollendetes Ganzes auch der Tat beurteilt werden kann, ibid. 1. Abs. c (IV, 73 f.). Die Gesinnung vertritt hier die Stelle der Totalität der Reihe des Fortschreitens, ibid. 1. Anm. (IV 74). Der Mensch, der die Wirkung der guten Gesinnung auf seinen Lebenswandel bemerkt, kann hoffen, er werde darin immer mehr erstarken und fortschreiten, ibid. c (IV 75 f.).
Der höchsten Gerechtigkeit in Sache der ursprünglichen Sündenschuld wird in dem Akte des Übergangs von der bösen zur guten Gesinnung selbst genüge getan. Das "Subjekt der Sünde" stirbt ab, um der Gerechtigkeit zu leben und der Mensch übernimmt nun alle Übel, die er früher nur als Strafe empfunden hätte, freudig, bloß um des Guten willen, auf sich, wodurch er vor Gott gerechtfertigt wird, dessen Gnade ihm zuteil wird, ibid. (IV 79 ff.). Der Aufnahme echter sittlicher Grundsätze in die Gesinnung widerstrebt "nicht etwa die so oft beschuldete Sinnlichkeit, sondern eine gewisse selbstverschuldete Verkehrtheit, oder wie man diese Bösartigkeit noch sonst nennen will, Betrug (fausseté, Satanslist, wodurch das Böse in die Welt gekommen)", Rel. 2. St. 2. Abs. (IV 94). Zur Überwindung des Bösen und zur Befestigung der Herrschaft des Guten dient das Reich (s. d.) der Tugend, das "Reich Gottes auf Erden", ibid. 3. St. am Anf. (IV 105 ff.).
Die "Vorsehung" verschafft dem Zwecke der Menschheit einen Ausgang, "weichem die Zwecke der Menschen, abgesondert betrachtet, gerade entgegenwirken". "Denn eben die Entgegenwirkung der Neigungen, aus welchen das Böse entspringt, untereinander, verschafft der Vernunft ein freies Spiel, sie insgesamt zu unterjochen und statt des Bösen, was sich selbst zerstört, das Gute, welches, wenn es einmal da ist, sich fernerhin von selbst erhält, herrschend zu machen", Theor. Prax. III (VI 112). "Das moralisch Böse hat die von seiner Natur unabtrennbare Eigenschaft, daß es in seinen Absichten (vornehmlich in Verhältnis gegen andere Gleichgesinnte) sich selbst zuwider und zerstörend ist und so dem (moralischen) Prinzip des Guten, wenngleich durch langsame Fortschritte, Platz macht", Z. ew. Fried. Anh. I (VI 161).
"In der irdischen Welt ist alles nur Fortschritt. So ist auch das Gute und die Glückseligkeit hier nicht Besitz, sondern nur Weg zur Vollkommenheit und Zufriedenheit. Das Böse in der Welt kann man daher ansehen als die unvollständige Entwicklung des Keims zum Guten." Es ist "bloße Negation" und besteht nur in der "Einschränkung des Guten". Indem der Mensch viele zur Tierheit gehörende Instinkte hat, verleitet ihn die Stärke dieser, sich ihnen zu überlassen, und so entsteht das Böse, indem der Mensch in Torheiten verfällt, sowie er anfängt, seine Vernunft zu gebrauchen. "Ein besonderer Keim zum Bösen läßt sich nicht denken." Das Böse ist eine Nebenfolge des Guten, "indem der Mensch mit seinen eigenen Schranken, mit seinen tierischen Instinkten zu kämpfen hat." Wenn sich der Mensch ganz entwickelt hat, so hört das Böse von selbst auf, Vorles. üb. d. philos. Religionslehre, S. 138 ff. Der Mensch ist von Natur weder gut noch böse; "er wird dieses nur, wenn seine Vernunft sich bis zu den Begriffen der Pflicht und des Gesetzes erhebt." "Man kann indessen sagen, daß er ursprünglich Anreize zu allen Lastern in sich habe, denn er hat Neigungen und Instinkte, ob ihn gleich die Vernunft zum Gegenteile treibt", Üb. Pädagogik, V. d. prakt. Erzieh. (VIII 244).
Seinem intelligiblen Charakter als angeborener Anlage nach ist der Mensch (von Natur) gut. "Da aber doch auch die Erfahrung zeigt: daß in ihm ein Hang zur tätigen Begehrung des Unerlaubten, ob er gleich weiß, daß es unerlaubt sei, d. i. zum Bösen, sei, der sich so unausbleiblich und so früh regt, als der Mensch nur von seiner Freiheit Gebrauch zu machen anhebt, und darum als angeboren betrachtet werden kann: so ist der Mensch seinem sensiblen Charakter nach auch als (von Natur) böse zu beurteilen", Anthr. 2. T. E III (TV 279); vgl. Mensch. — Von einem Menschen mit steifem, unbiegsamem Sinn "kann man nicht füglich sagen: die Bosheit dieses Menschen ist eine Charaktereigenschaft desselben; denn alsdann wäre sie teuflisch; der Mensch aber billigt das Böse in sich nie, und so gibt es eigentlich keine Bosheit aus Grundsätzen, sondern nur aus Veranlassung derselben", ibid. A III V. d. Eigenschaften... 3 (IV 237); vgl. Charakter.
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Aus: http://www.literaturkritik.de/public/rez...&ausgabe=200611
literaturkritik.de » Nr. 11, November 2006 » Philosophie und Soziologie
Die Moral hat sich ihres Stachels beraubt
Tobias Blanke über "das Böse in der politischen Theorie". -
Von Ursula Homann:
Das Böse gehört zu den philosophischen Grundbegriffen, aber es spielt auch in der Theologie, in der Esoterik und nicht zuletzt in der Politik eine große Rolle. Der Verfasser Tobias Blanke, wissenschaftlicher Mitarbeiter im "Arts and Humanities Data Service" des King's College, London, untersucht in seiner als Dissertation eingereichten Schrift den Einfluss des Bösen auf die Ideen des Politischen. Dabei setzt er sich vor allem mit Hegel, Kant und anderen Philosophen auseinander, die die Debatte über das Böse in der Geschichte geprägt haben,
Eine einfache Lösung für das Problem des Bösen hat bekanntlich der gegenwärtige US-Präsident George W. Bush parat. Für ihn, aber auch für manch anderen Staatsmann, sind die Bösen immer die Anderen, die Terroristen. Sie selbst jedoch sind Demokraten und daher gut. Dieser Formel: "Wir die Guten, die anderen die Bösen" widerspricht der Autor vehement und macht deutlich, dass nicht von ungefähr am Anfang der politischen Wissenschaft der Neuzeit der Zweifel an der Menschennatur steht und dass, nach Ansicht vieler Theoretiker, Staaten in erster Linie deshalb gegründet werden, weil der Mensch seine Freiheit häufig missbraucht. Somit fällt dem Politiker die Aufgabe zu, Menschen vor der Gewalt, die sie selbst ausüben, zu schützen.
Vor Kant herrschte jahrhundertelang die Gewissheit vor, dass es ohne Gott keinen vernünftigen Schritt der Menschheit geben könne. Augustinus und Leibniz waren davon überzeugt, dass Gott lediglich Gutes geschaffen habe und dass das Böse vom Menschen stammt, das Gott nur "zum Ruhme der höheren Ordnung im Kosmos" zugelassen hat. In seinem Bemühen, Gott angesichts des real existierenden Bösen zu rechtfertigen, beschreibt Augustinus zum ersten Mal so etwas wie ein freies Wollen als Grund des Bösen in der guten Schöpfung Gottes. Leibniz wiederum systematisiert die Verteidigung Gottes im Hinblick auf das Böse in seiner Theodizee.
Der Versuch der nachfolgenden Philosophen, das Böse in ihre Systeme der praktischen und der politischen Philosophie einzugliedern, hat dieses dann von seinen religiösen Ursprüngen entfernt. Der Teufel als Verursacher des Bösen tritt immer mehr zurück, an seine Stelle tritt die "Unvollkommenheit der Kreaturen" (Leibniz). Spätestens seit der Neuzeit steht das Böse für ein moralisches Problem. Hobbes und Machiavelli gründen ihre Theorien auf der Gewissheit, dass die Menschen böse seien, während Rousseau, ihr Gegenspieler, unbedingtes Vertrauen in die Menschennatur hatte. Jahrhunderte später hat Max Weber die Legitimation des Gewaltmonopols über das Böse im Menschen zu der ethischen Frage des Politischen schlechthin erklärt. Nicht der Teufel sei demzufolge schuld am Bösen, schreibt Blanke, der Mensch bringe es ganz allein mit der gleichen Kraft zuwege, mit der er auch das Gute schafft. Das Böse folgt seinem Willen und seiner Freiheit.
Als erster hatte Kant die Theorie vom Bösen und der Politik revolutioniert. Für ihn ist der Mensch dann radikal böse, wenn er die Negation des moralischen Gesetzes zum Prinzip seiner Haltungen macht. Nur wer das moralische Gesetz will, ist, laut Kant, frei. Andernfalls wendet er sich aus Freiheit gegen die Freiheit.
Allerdings sei Kant, führt Tobias Blanke aus, wobei er sich in allerlei Winkelzüge begibt, mit seiner moralischen Freiheit zum Guten gescheitert, nicht zuletzt, weil er gesellschaftliche Hintergründe ausgeklammert hat und weil es, seiner Meinung nach, für das Freiheitswesen keine Situation gibt, in der es vernünftig wäre zu lügen - nicht einmal als Gefangener im KZ. Kein Wunder also, dass seine Pflichtenlehre bei Adolf Eichmann zur Unterwerfungslehre wird, die lediglich besagt, dass man sich höheren Gesetzen zu unterwerfen habe.
Hegels Credo lautet dagegen, der Mensch habe die menschliche Welt zu produzieren und dürfe nicht hinnehmen, was man noch verändern kann. In der Moral sieht Hegel in erster Linie die Anstrengung der Menschen, sich aus der äußeren Welt in eine bessere, innere Welt zurückzuziehen, und glaubt, dass dieser Rückzug keine bessere Welt hervorbringt, sondern diese nur noch gefährlicher macht.
Politik, nicht Moral, bekämpft und beendet das Böse, das sei im Grunde die Idee der politischen Theorie gewesen, behauptet der Autor. Für manche Theoretiker bedarf es dazu allerdings durchsetzungsfähiger Mächte, um das Böse effektiv zu unterbinden.
Wiederholt kommt Tobias Blanke auf Hannah Arendts Schriften zu sprechen. Immerhin hat gerade sie die Gegenwart des Bösen in der Moderne geschildert, und zwar anhand des Sozialtechnokraten Adolf Eichmann, für den das Einzelschicksal hinter die Entwicklung des Ganzen als Nation zurücktreten musste. Gerade durch diese äußerst nüchterne, "profane" Figur sei klar geworden, dass die Moral gegen die nationalsozialistische Wirklichkeit nicht viel ausrichten konnte. Insbesondere Auschwitz habe sichtbar gemacht, was Menschen Menschen antun können. Es habe keines tief verwurzelten Hanges zum Bösen in der menschlichen Natur bedurft, um Millionen Menschen industrieförmig zu vernichten. Ein politisches Projekt namens "Volksgemeinschaft" habe zum Scheitern der Moral geführt. Das Beunruhigende daran sei, dass es überwiegend von Durchschnittstypen ausgeübt wurde.
"Im Herunterbeten von Allgemeinplätzen wie den unveräußerlichen Menschenrechten hat sich die Moral ihres Stachels beraubt", stellt der Verfasser abschließend fest. "Sie will nicht mehr die Freiheit geben, die Welt von sich aus anzufangen, und zum Bruch mit dem bestehenden Sein anleiten. Sie will wieder einfaches Gesetz sein und rechtfertigt das damit, das Böse in den Menschen aufhalten zu müssen, das politisch gesehen so viele hat mitmachen lassen beim Totalitarismus [...]. Durch die Brüche mit ihrem Sein werden die Menschen zur Politik fähig, bloß als unendliche Wesen sind sie fähig, die Endlichkeit zu verändern. Weil die Moral nicht Menschen heute werterziehend verendlichen will, führt sie nicht mehr wie bei Kant und Hegel zur Politik, sondern zur Anti-Politik."
Eine These, über die man noch länger wird nachdenken müssen und über die man gewiss trefflich streiten kann.
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"Die Erlösung kann nicht verdient, nur empfangen werden, - darum ist sie die Erlösung". -
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