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Über afrobrasilianische Ritual-und Religionsformen
Der Körper als Tempel
Von Astrid Habiba Kreszmeier
Aus der Sicht Europas ist Brasilien ein junges Land, war es doch bis zu seiner Entdeckung im Jahre 1500 auf den Land- und Seekarten der herrschenden Reiche gar nicht vorhanden. Mit fortschreitender Kolonisierung durch die Portugiesen, Spanier, Niederländer und Engländer wurde der Wert der "unzivilisierten" Länder erkannt und genutzt. Der Handel entwickelte sich zur wesentlichen Wirtschaftskraft, und gehandelt wurde nicht nur mit Gütern, sondern auch mit Menschen. Im Laufe des 16., 17. und 18. Jahrhunderts entwickelte sich zwischen Europa, Afrika und Amerika ein fataler Dreieckshandel, bei dem viele Millionen Afrikaner quer über den Atlantik deportiert und wertvolle Rohstoffe von Amerika nach Europa und Billiggüter von Europa nach Afrika geliefert wurden. Der Großteil aller Sklaven landete in Brasilien, das sich aufgrund der klimatischen Bedingungen für Plantagenwirtschaft im feudalen Stil eignete.
Durch die Versklavung wurden Familien und Völker zersplittert, ihrem Grund und Boden und allem, was für sie Leben bedeutete, entrissen. Wer gefangen und verkauft wurde, starb vielleicht nicht einen körperlichen, aber sicher einen sozialen Tod. Es war eine Demütigung höchsten Grades, ein Verlust der menschlichen Würde. Die unsagbaren Bedingungen der Schiffstransporte kosteten vielen auch das Letzte, was sie hatten - ihr Leben. Es gleicht einem Wunder, dass trotzdem so viele die amerikanische Küste zwar nicht heil, aber immerhin lebend erreicht hatten. Es klingt zynisch, aber es war wohl auch diese Widerstandsfähigkeit, welche die Afrikaner zu "Paradesklaven" werden ließ.
In der neuen Welt angekommen, gebrochen und desorientiert, waren sie Spielbälle der Willkür der Mächtigen - für organisierten, politischen Widerstand sollte da lange Zeit kein Platz sein. Das Einzige, was diesen in der Fremde bunt zusammengewürfelten Menschen blieb, waren Erinnerungen, das Vertrauen in ihre Ahnen und die Rituale, mit denen sie ihren Göttern huldigten und zugleich ihren Glauben stärkten. Es ist schwer vorstellbar, dass sich Menschen mit einem solchen Schicksal nicht verdrossen und enttäuscht von ihrem Gott oder ihren Göttern abwenden. Aber sie taten es nicht, vielleicht, weil die Götter Afrikas immer Naturgötter waren und ihre Präsenz auf jedem Flecken der Erde spürbar sein kann. Wer Gott im Wind erkennt, im Meer oder Fluss, im Stein, im Baum, im Feuer, in der Sonne oder im Regenbogen, wird ihn finden, egal wo. Genau das ist diesen Menschen geglückt: Sie haben die Götter und Göttinnen Afrikas in Brasilien wieder entdeckt. Sie hätten sie überall wieder entdeckt.
Jahrhunderte der Sklaverei prägen die Geschichte Brasiliens und seiner Menschen. Ein kleiner Teil der indianischen Bevölkerung konnte seinen Heimvorteil nutzen und in den Wäldern und Bergen untertauchen. Der Großteil jedoch wurde versklavt oder starb an den Folgen der Invasion, so wie viele Indianer des Regenwaldes auch heute noch daran sterben.
In den ersten Kolonialjahren war Brasilien für Portugal nur von minderem Interesse. Es galt als Land, dem es an Kultur, Lebensstil und Luxus fehlte. Erst das Aufkommen des Sklavenhandels änderte den Stellenwert Brasiliens innerhalb der portugiesischen Kolonialpolitik, aber es blieb ein Stiefkind, auf das Portugal in einer Stunde der Not zurückgreifen musste. Unter der Schutzherrschaft der englischen Flotte zog sich der gesamte portugiesische Hofstaat auf der Flucht vor Napoleon nach Brasilien zurück. Mit dieser Flucht kamen neue Menschen, kulturelle Impulse und ein verstärkter missionarischer Schub ins Land, der sich - nicht immer auf sehr christliche Weise - um die Errettung der verirrten Seelen kümmerte.
Spiritueller Synkretismus
In diesem Land trafen sich also Europäer, vornehmlich Portugiesen, die dort gar nicht sein wollten, Afrikaner, die dort nicht hingehörten, und Indianer, die es vielleicht vorgezogen hätten, wären die anderen beiden gar nie aufgetaucht. Aus dieser für alle misslichen Situation galt es das Beste zu machen. Es kam mit der Zeit nicht nur zu einer Vermischung des Blutes, sondern auch zu einem Zusammenfließen des Geistes und der spirituellen Kräfte. Dieser Befruchtungsprozess mündete in die afroamerikanischen Religionen - so auch in die Umbanda.
Die afrikanischen Sklaven begannen die Rituale ihrer Heimat in Brasilien zu praktizieren und Einflüsse der indianischen Tradition mit aufzunehmen. Um die Repressionen von Seiten der "Herren" so gering wie möglich zu halten, entwickelten sich Querverbindungen zwischen ihren eigenen Heiligen und den christlichen - und Anpassungen in den rituellen Formen.
Das Hauptelement dieser aus Westafrika importierten Religionen war und ist die Inkorporation, eine Tranceform, bei der Medien, so genannte Filhos de Santo, göttliche Kräfte, Orixás, in sich aufnehmen. Die Orixás, so wird erzählt, seien den Menschen von Gott geschenkt worden, damit sie eine lebendige Brücke zu ihm hätten. Die Inkorporation ist demnach eine sinnlich erfahrbare Kontaktaufnahme mit Gott, sie ist Andacht und Gebet, Ekstase und Heilung.
Als Prozess des Empfangens und der Aufnahme gilt die Inkorporation als weibliche Form von Schamanismus. Mit dem höchsten Initiationsgrad wird das Medium zu einem Babalorixá oder zu einer Yalorixá. Baba ist der Vater und Ya die Mutter, die bestimmte göttliche Qualitäten in sich tragen. Sie sind Priester und Heiler, meist "Vorsteher" einer Gemeinschaft und zuständig für die Ausbildung ihrer Nachfolge. Wie in allen schamanischen Traditionen ist dieses Amt kein selbstgewählter Beruf, sondern an eine Berufung gekoppelt, die entweder durch eine familiäre Tradition oder durch initiatorische Krankheiten und Unfälle gegeben sein kann. Die Sklaven Brasiliens hatten ihre soziale Heimat zwar verloren, aber die Inkorporation als Weg, mit heiligen Kräften in Verbindung zu treten, bewahrt. So entstanden neue Gemeinschaften, neue Babalorixás und Yalorixás.
300.000 "Umbanda-Kirchen"
Im Laufe der Zeit mischten sich unter die afrikanischen auch indianische Geister; eigenständige Inkorporationsformen und Namen entwickelten sich. Es entstanden geografisch und kulturell angepasste Traditionen, die in Brasilien heute unter dem Namen "Candomblé" und "Umbanda" weit verbreitete und anerkannte Religionsformen sind. Es gibt an die 300.000 offiziell registrierte "Umbanda-Kirchen", die in ihrer Organisation, ihrer Philosophie, ihrem traditionellen Wissen und ihren rituellen Formen große Unterschiede aufweisen.
Die Umbanda hat keine Bibel und keinen Oberpriester, die eine Linie vorschreiben. Es gibt verbindende Grundauffassungen, aber jede Gemeinschaft, jeder Terreiro (= spirituelle Gemeinschaft; Haus, in dem Rituale durchgeführt werden) entwickelt gemäß des Auftrags der "Chef-Entität" eine eigene Ausdrucksform, eine eigene philosophische Theorie.
Der Templo Guaracy, eine dieser Umbanda-Gemeinschaften, versteht sich als ein spiritueller Weg, der alle Religionen der Welt - sofern sie einen lebensbejahenden Charakter besitzen - anerkennt, selbst aber keinen Religionsanspruch erhebt. Er glaubt an bestimmte Gesetzmäßigkeiten, in denen das Leben seinen Ausdruck findet, aber nicht an Dogmen, die vorschreiben, was gut ist und was schlecht. Templo Guaracy glaubt an ein universelles schöpferisches Prinzip, an einen Gott und daran, dass jeder ein göttliches Licht, ein göttliches Fragment in sich trägt. Die Essenz dieses Fragments ist in allen die selbe, die Ausdrucksqualität eine andere. Der Tempel glaubt, dass es möglich ist, zu diesem Licht eine Beziehung aufzubauen, es leuchten zu lassen, es nach außen zu tragen. Es gibt viele Formen auf der Welt, das zu tun. Man kann meditieren, in die Eremitage gehen, Messen feiern und vieles mehr.
Einige Religionen und Traditionen arbeiten mit dem Phänomen der Medialität - mit der Fähigkeit des Menschen, außerhalb existierende Bewusstseinsformen in sich aufzunehmen. Es gibt viele verschiedene Formen von Medialität - intuitive Fähigkeiten, hellseherische Qualitäten, Wege, in denen Menschen in Trance künstlerische Werke schaffen, die sie mit normalem Wachbewusstsein nie zustande bringen würden.
Die Medialität der Inkorporation, mit der im Templo Guaracy gearbeitet wird, ist eine Form unter vielen. Die Entitäten, die hier inkorporiert werden, helfen dem Medium, sein inneres Licht zu entdecken. Diese Entitäten sind die Führer und Begleiter, zu ihnen muss das Medium Beziehung und Vertrauen aufbauen. Das geht nicht von heute auf morgen, sondern verlangt Ausdauer und Eigenverantwortlichkeit. Wer einen Guru sucht, wird im Templo Guaracy nicht fündig werden. Es gibt einen Pai, einen Babalorixá: Er wird geliebt, verehrt, respektiert dafür, dass er die Türen zu den eigenen Entitäten öffnet und dem gesamten Tempel Schutz und Struktur gibt. Aber es ist nicht die Beziehung zu ihm, die die spirituelle Entwicklung ausmacht - es ist die Beziehung zu den eigenen Entitäten. Jedes Medium trägt ein Gottesfragment in sich. Der Körper ist sein Tempel, der Kopf ist sein Altar. Die Entitäten, die es inkorporiert, helfen, diesen Gott in sich zu entdecken. Ihre Art sich zu zeigen und sich mitzuteilen, ihre Art zu lehren und Grenzen zu setzen, ist die große Schule, die darauf vorbereitet, einer göttlichen Kraft zu begegnen. Mit ihnen entwickeln sich das Rückgrat, die Demut, der Boden und die Durchlässigkeit, die nötig ist. Göttliche Kräfte sind kein Spielzeug. Viele, die ihnen unvorbereitet begegneten, sind abgestürzt oder verrückt geworden.
"Schritte des Lernens"
So heißt ein Buch der Grazer Sozialpädagogin und Psychotherapeutin Astrid Habiba Kreszmeier, in dem sie ihre persönlichen Erfahrungen mit der afrobrasilianischen Umbanda-Religion höchst einfühlsam, informativ und transparent auf- und nachzeichnet. Seit 1993 ist sie Lernende in der Tradition des "Templo Guaracy" in Brasilien, seit 1996 auch mit Ritualen in Österreich und der Schweiz. Das Buch ist bei analog publications in St. Gallen erschienen. Bestellungen und Informationen: http://www.analog.ch.; info@analog.ch.
Freitag, 23. November 2001 00:00:00
Update: Dienstag, 01. März 2005 14:57:00
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"Die Erlösung kann nicht verdient, nur empfangen werden, - darum ist sie die Erlösung". -
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