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Weisheit & Recht:

in Das magisch gesunde Gehirn: 11.06.2010 20:12
von Adamon • Nexar | 15.548 Beiträge

"Die Gerechtigkeit der Sophia":

Weisheit ist die Innenseite der Gerechtigkeit: Die Chokmah als Erbin der Maat


Bleiben wir bei der Frage nach dem Zusammenhang von Weisheit und Gerechtigkeit.
Als Alttestamentlerin bin ich überrascht, wenn ausgerechnet diese beiden Größen als sich
ausschließende betrachtet werden, sind sie doch in der biblischen Tradition ausdrücklich
und in verschiedensten Texten sehr eng aufeinander bezogen.

Das zentrale Thema der Spruchweisheit, vieler Psalmen oder des Ijobbuches ist der Lebenswandel
der Gerechten gegenüber dem der Verbrecher und Dummköpfe.
Alle diese Schriften fragen unermüdlich nach dem Zusammenhang von Tun und Ergehen,
also nach den Grundlagen ethischen Verhaltens.

Sogar wenn dieser Zusammenhang zerbricht, geht die Suche nach der gottgeschaffenen
Ordnung der Welt und der Möglichkeit, in dieser Welt trotzdem weise und gerecht zu leben,
weiter (Ijob, Kohelet).

Noch das späte Buch der Weisheit steht unter dem Titelvers »Liebt Gerechtigkeit, die ihr die Erde regieret«
. Ein s9adiq ist immer auch mit Weisheit begabt (Psalm 37,30; vgl. Sprüche 10,31):

"Der Mund des Gerechten spricht Weisheit, und seine Zunge redet Recht".



Weisheit ist unabdingbar, um Recht zu erkennen, Recht zu sprechen, in Geradheit zu leben
(Sprüche 1,2f; 8,1-21).
In der konkreten Gesetzgebung manifestiert sich nach Deuteronomium 4,5f
die Weisheit und Einsicht eines Volkes (vgl. Jeremia 8,8-9).
Vor allem die Könige, denen obliegt, Gerechtigkeit für die Elenden und Armen zu schaffen,
sind auf die Gabe der Weisheit angewiesen (Sprüche 8,15).
Das gilt für Salomo (1Könige 3,28) wie auch für den sehnsüchtig erwarteten gerechten Herrscher
der kommenden Heilszeit (Jesaja 11,1-10).
An Stelle dieser königlichen Gestalten tritt in nachexilischen Texten die personifizierte Hokmah
in Frauengestalt als Künderin der Gerechtigkeit auf.

Religionsgeschichtlich geht die enge Beziehung von Weisheit und Gerechtigkeit generell sowie
das Image der personifizierten Hokmah stark auf altägyptische Vorstellungen zurück,
in deren Zentrum die ägyptische Göttin der rechten Ordnung Maat steht. [9]

Maat umfaßt das Göttliche und die Natur, das Königtum, die Gesellschaft und
die menschlichen Beziehungen; sie steht für die kosmischen und die gottgewollten,
d.h. idealen kulturellen Ordnungen.

Als Göttin gehört Maat zum ägyptischen Pantheon, sie hat aber eine besondere Stellung,
da die anderen Gottheiten auf sie als kosmisches Prinzip hin orientiert sind.

Als Zeugin ist sie beim Totengericht zugegen, da sie ja die Ordnung vertritt,
für deren Einhaltung der Tote sich beim Totengericht im Jenseits zu rechtfertigen hat.

Sie gilt als Tochter des Sonnengottes Re, der jedoch die von der Maat gefügte kosmische Ordnung
des Sonnenlaufs zu erfüllen hat. Sie ist eine der Schutzpatroninnen des Königtums,
da der König der Garant der gottgewollten kosmischen und gesellschaftlichen Ordnung ist,
die menschliches Leben überhaupt erst ermöglicht.

Der König bringt deshalb im Kult die Maat als Opfergabe den Göttern dar,
das heißt er vollzieht die Maat in Stellvertretung und garantiert für sie,
während die Götter selbst sich nicht direkt in den Lauf der Dinge einschalten.

Der Gegenbegriff zu Maat ist Isfet, der Zustand der Rechtlosigkeit, der Gewalt und Unterdrückung.
Die soziale Ordnung, die die Maat repräsentiert, ist keine demokratische, sondern eine hierarchische.

Doch das Recht, für das sie steht, ist das Recht, das dem Schwächeren eine Chance gibt,
die Idee einer vertikalen Solidarität der Bessergestellten mit allen Teilen der Gesellschaft.

Die Weisheit des Ersten Testaments ist wie die ägyptische Maat von der Idee einer umfassenden
gerechten Ordnung und dem Tun der Gerechtigkeit nicht zu trennen.



Die israelitischen Begriffe aedaeq/edaqah beziehen sich zwar häufig auf soziale Aspekte der Gerechtigkeit,
aber sie umfassen viele weitere Vorstellungen von göttlichen Ordnungen der Welt,
auch die kosmischen und natürlichen Ordnungen.

Die Hokmah verkörpert ähnlich wie die Maat diese Grundordnungen.
Die gegenseitige Abhängigkeit der Harmonie von gesellschaftlichen und kosmischen Ordnungen
setzen auch biblische Texte voraus.

Wird das Recht korrumpiert, bricht über das Land eine Dürre ein (Hosea 4,2f),
stellt der Gesandte JHWHs die Gerechtigkeit wieder her,
wird die gesamte Schöpfungsordnung neu gefügt (Jesaja 11,1-9).

Das Ijobbuch führt den Betroffenen aus der Enge, in die ihn das Leid trieb,
hinaus in die Weite der göttlichen Schöpfung.
Das Buch der Weisheit stellt sich vor, daß Gott irgendwann mit Hilfe der gesamten Schöpfung
gegen die Toren und Gottlosen in den Kampf ziehen wird (Weisheit 5,14-23).



Biblische Kritik an der Weisheit der Weisen


Die biblischen Weisheitsbücher sind an der rechten Ordnung sozialer Beziehungen
und anderen Grundordnungen der Welt vorrangig interessiert.

In der Schärfe der soziale Mißstände anklagenden Analyse nimmt es so mancher Weisheitstext
mit prophetischen Texten auf, wie zum Beispiel Ijob 24,
wo die Verelendung absolut mittelloser JudäerInnen in der Zeit nach dem Exil
den besser Situierten ungeschminkt als Skandalon vorgehalten wird,
oder Sirach 34,24ff, der Text, der Bartolomé de las Casas
die Augen für das Unrecht der Conquista öffnete:

Wer ein Opfer darbringt vom Gute des Armen,

ist wie einer, der den Sohn schlachtet vor des Vaters Augen.

Ein kärgliches Brot ist der Lebensunterhalt der Armen;

wer ihm dies entzieht, ist ein Mörder.

Den Nächsten mordet, wer ihn ums Brot bringt,

und Blut vergießt, wer dem Arbeiter den Lohn entzieht.



Ohne Zweifel ist die uns vorliegende, verschriftlichte Weisheitsliteratur in den gebildeten,
das heißt wohlhabenden Kreisen Israels entstanden, doch ist mit solchen Prozessen grundsätzlich
bei jeder biblischen Literatur zu rechnen, bei Erzählungen, Gesetzen, Liedern oder Gebeten.

Wie in Ägypten wurden Weisheitsschriften gern als Lebenslehre eines Vater-Lehrers
an einen Schüler-Sohn gestaltet.

Hofbeamte, die das Amt eines Ratgebers hatten, galten als professionelle »Weise«.

Dennoch ist der Stoff, aus dem Psalmen, Kunstsprüche oder ein Ijobbuch geschaffen sind,
Traditionsgut, in das auch mündliche Volksweisheit eingeflossen ist.

Sogar die spätere Schriftgelehrtenweisheit eines Jesus Sirach kommt ohne dieses
Erfahrungswissen nicht aus.
Der hebräische Begriff Hokmah war nie enggeführt auf Bildung und Wissen,
er hatte eine erfahrungs- und praxisbezogene Seite.

Als Weise nach altisraelitischem Verständnis galten auch Sachverständige in einem Kunsthandwerk,
SpezialistInnen für Rituale (Klagefrauen) und Leute mit viel Lebenserfahrung, bei denen man sich Rat holte.

Daß menschliches Wissen und Erkennen grundsätzlich sehr begrenzt und unzuverlässig ist,
hat die gesamte antike Literatur immer wieder thematisiert.
Auch daß Weisheit durch die Bindung an Reichtum und Bildung korrumpiert wird,
wird nicht erst in biblischen Texten thematisiert, dort aber immer wieder.
Schon in der Lehre des Ptahhotep (2350 v.Chr.) [10] wird gewarnt:

Sei nicht eingebildet auf dein Wissen

und verlasse dich nicht darauf, daß du ein Weiser seist,

sondern besprich dich mit dem Unwissenden so gut wie mit dem Weisen.

Es gibt keinen Künstler, der seine Vollkommenheit erworben hat,

denn die Grenzen der Kunst werden nie erreicht.

Vollkommene Rede ist verborgener als ein Malachit,

und doch kann man sie entdecken bei den Mägden über den Mahlsteinen.



Während die Rettung der Stadt Abel-bet-Maacha durch eine weise Frau in der älteren
Erzähltradition Israels bewahrt ist (2Samuel 20,14-22), beklagt Kohelet (9,13-16),
daß man des armen Weisen, der eine Stadt vor Krieg rettet, wegen seiner Armut nicht gedenkt:

Auch dieses Beispiel von Weisheit habe ich unter der Sonne gesehen,

und es bedünkte mich groß:

Da war eine kleine Stadt,

und der Leute darin waren wenig;

und ein großer König zog gegen sie heran,

belagerte sie und baute wider sie große Bollwerke.

Nun fand sich darin ein armer, weiser Mann;

der rettete durch seine Weisheit die Stadt.

Aber niemand gedenkt jenes Armen.

Da sagte ich mir: Weisheit ist besser als Stärke;

doch die Weisheit des Armen ist verachtet,

und auf seine Worte hört man nicht.



Eingebildete, selbstgefällige Weisheit der Profi-Weisen und Reichen
wird in der Weisheitsliteratur selbst immer wieder im Namen JHWHs hinterfragt
(Sprüche 3,7; 28,11; Ijob 37,24; vgl. auch Jesaja 5,21):

Halte dich selbst nicht für weise,

fürchte JHWH und meide das Böse.



Echte Weisheit wird den kleinen Leuten zugestanden (Sprüche 11,2),
den Supergescheiten aber legt Gott das Handwerk (Ijob 5,12) und sorgt dafür,
daß ihr Wissen zur Narrheit wird (Jesaja 44,25).

Weisheit, die mit Rechtsverdrehung, Lüge und Gottesverachtung einhergeht,
ist keine Weisheit (Jeremia 8,8f):

Wie dürft ihr nur sagen: »Weise sind wird, haben wir doch das Gesetz JHWHs.«
Ja, fürwahr, zur Lüge macht es der Lügengriffel der Schriftgelehrten!
Zuschanden werden die Weisen, werden bestürzt und gefangen;
denn sie verachten das Wort JHWHs. Was hätten sie da für Weisheit?



So wird als Kriterium wahrer Weisheit immer wieder JHWHfurcht hervorgehoben,
eine Frömmigkeit, die mit der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit Gottes rechnet (Jeremia 9,23):

So spricht JHWH: Der Weise rühme sich nicht seiner Weisheit,
der Starke rühme sich nicht seiner Stärke, der Reiche rühme sich nicht seines Reichtums,
sondern dessen rühme sich, wer sich rühmen will: einsichtig zu sein und mich zu erkennen,
zu wissen, daß ich, JHWH, es bin, der Gnade und Recht und Gerechtigkeit auf Erden übt;
denn an solchen habe ich Wohlgefallen, spricht JHWH.



An diese weisheitskritische Tradition, die eine starke gesellschafts- und herrschaftskritische
Komponente hat, knüpft in der Q-Tradition Jesus mit einer Seligpreisung der »Unverbildeten«
(nepioi) an (Mattäus 11,25f; vgl. Lukas 10,21 und die Anlehnung an Weisheit 10,21):

Ich lobpreise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, daß du dies verborgen hast
vor Weisen und Klugen und es enthüllt hast Unverbildeten. Ja, Vater, so geschah Wohlgefallen vor dir.

Wenn Paulus im ersten Korintherbrief mit mehr oder weniger wörtlichen Zitaten
der genannten alttestamentlichen Texte den Gegensatz zwischen gelehrter Weltweisheit
und der Verkündigung der Torheit des Gekreuzigten, die göttliche Weisheit ist, aufbaut,
ist leider nicht auszuschließen, daß er ausgerechnet mit dieser Argumentation einzig seine
eigene Autorität und Weisheit zu untermauern suchte und die Weisheit korinthischer Frauen
zu diffamieren suchte. [11]

Wie naheliegend es für die christlichen Gemeinden im ersten Jahrhundert war,
in den alttestamentlichen Toren und Ungebildeten die Marginalisierten und Armen
ihrer Gesellschaft zu erkennen, zeigt auch die in der Logienquelle überlieferte Gastmahlparabel,
die an die Einladung der Gastgeberin Weisheit in Sprüche 9 anknüpft,
wobei auf den Straßen nicht die Uneinsichtigen, sondern die (ungebildeten) Armen eingesammelt werden.

Die Option für eine feministische Weisheitstheologie, die bei den Ungebildeten der Welt ansetzt,
kann und darf sich auf frühchristliche Traditionen berufen, aber auf keinen Fall auf Kosten
der alttestamentlichen Weisheit insgesamt, die damit nur noch als Negativfolie für
das weiterführend Christliche mißbraucht würde.

Weisheitskritik hat ihre Ursprünge in Israel ähnlich wie von Anfang an die Korrumpierbarkeit
des Prophetenamtes und das Auftreten falscher ProphetInnen thematisiert werden.

Die biblische Kritik an der Weisheit der Weisen war nicht Sache einer über alles erhaben urteilenden
und alle Maßstäbe setzenden Prophetie, sondern wurde wiederum von der Weisheit,
auch der Weisheit der kleinen Leute, her formuliert.

Nicht die Weisheit als solche wurde in Frage gestellt, sondern eine bestimmte, selbstgenügsame
(männliche) Gelehrtenweisheit.

Im Neuen Testament steht wenigen weisheitskritischen Gedanken eine Fülle positiver Rezeptionen
von weisheitlichen Bildern, Gedanken und Traditionen gegenüber.
Der synoptische Jesus geht in seinen Gleichnissen und Reden immer wieder von
Alltagsbeobachtungen der Menschen aus.

Er wird als Weisheitslehrer erlebt und als Bote der Sophia verstanden,
bald einmal auch doxologisch, wiederum in engster Anlehnung an ältere biblische Weisheitskonzeptionen,
als Weisheit Gottes bekannt.

Auch Paulus rezipiert in 1Korinther 2,6ff die Weisheitschristologie der
hymnischen Bekenntisse ohne jede Kritik.


Weisheit und Gottesfurcht


Angelika Strotmann [12] hat als spezielles Problem der Logienquelle die Gerichtsworte,
die sich gegen ganz Israel richten und antijudaistisch gelesen werden können, angesprochen.

Sie zeigt selbst auf, wie mittels genauer Lektüre der alttestamentlichen Wurzeln dieser
Gerichtsworte eine solche falsche Lektüre verhindert werden kann.

Von der alttestamentlichen Weisheitstradition her ist es wenig erstaunlich,
daß die Weisheit in den Q-Logien mehrfach mit Gerichtsgedanken verbunden erscheint.

Sie tritt schon in den Proverbien (Sprüche 1) mit Gerichtsdrohungen auf,
sie ruft zu einer Entscheidung, einem Ja zum Leben, das zugleich ein Nein gegen
alle Nekrophilie ist (Sprüche 8,35f).

Das mag schockieren, aber wie anders wäre die enge Verbindung von Weisheit und Gerechtigkeit
ernstzunehmen, wenn nicht eine Verfehlung oder Mißachtung dieser Weisheit und das
Ausschlagen ihrer an alle ergehenden Einladung auch Folgen hätte?

Der Gott Israels und Jesu ist ein Gott der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit,
ein Gott, der die Sonne über Guten und Bösen aufgehen läßt,
aber dennoch die Stätten der Verbrecher in der Tradition des richtenden Sonnengottes
Schamasch vernichtet.

In diesem Sinn wird auch das Töten der heutigen BotInnen der Sophia das Gericht nicht verhindern.

Biblische Gottesfurcht hat mit Angst nichts zu tun, sie ist vielmehr eine Lebenshaltung,
die mit Gottes Wirkmacht in dieser Welt und Gottes kompromißloser Güte rechnet.

Wenn das Erste Testament die Weisheit als Gerichtspredigerin auftreten läßt
und nach Q die Königin von Saba als Zeugin »im Gericht mit den Männern dieses Geschlechts«
(Lukas 11,31; Mattäus 12,42) aufersteht, so liegt in diesen Bildern eine Herausforderung
an jede feministische Theologie, biblische Gottesbilder nicht in einer verharmlosenden Auswahl
der bürgerlichen Religion verfügbar zu machen.

Meine Ausführungen unterstützen die These von Schüssler Fiorenza,
daß feministische Weisheitstheologie nicht bei der Weiblichkeit der personifizierten Chokmah
und deren Spuren in neutestamentlichen Texten stehenbleiben darf.

Zwar ist die weibliche Rede von Gott-Christus-Sophia unverzichtbar,
um die patriarchalen Ontologisierungen theologischer Sprache und die Verfestigungen
unserer Gottesbilder aufzubrechen.

Darüber hinaus aber ist eine kritische feministische Revision und Aneignung
von Weisheitstraditionen überhaupt gefordert, die sich immer wieder auf die Frage der
Gerechtigkeit zu beziehen hat und diese auch kritisch gegen sich selbst gerichtet
und weiterhin zu richten hat.

Dieser Bezug auf Gerechtigkeit ist nicht nur prophetisch und nicht spezifisch christlich,
er ist wesentlich weisheitlich und alttestamentlich, darüber hinaus auch altorientalisch,
was Grund genug ist, unseren Respekt vor antiken Religionen zu fördern.

Eine kritische feministische Revision weisheitlicher Texte hat deren Funktionalisierung
für patriarchale Herrschaft, wie sie beispielsweise im Buch Jesus Sirach sehr offensichtlich ist,
aufzudecken.

Sie muß die weiblichen Subjekte als Sprecherinnen oder Empfängerinnen weisheitlichen
Rates sichtbar machen, nach der Weisheit der israelitischen Frauen und ihrem Verstummen
fragen, auch nach dem merkwürdigen Kontrast zwischen einer weiblich konnotierten Hokmah
und einem über männliche Autoritäten (Salomo, Vater) verlaufenden Tradierungsvorgang,
wie er in verschiedenen großen Religionen zu beobachten ist.

[13] Die Kritik an der »Weisheit der Weisen« ist immer Kyriarchatskritik,
doch muß die weibliche Stimme dieser Kritik in den biblischen Texten und in unserem
Alltag hörbar gemacht werden.

Feministische Theologie hat darüber hinaus die Transformierung der damaligen Vorstellungen
von einer gerechten Ordnung auf heutige, beispielsweise demokratische,
Gesellschaftsordnungen zu wagen, die Aufmerksamkeit für die Schöpfung,
die Tier- und Pflanzenwelt und das Alltagsleben von Menschen in die Mitte der Theologie zu rücken.

Auf die biblische Weisheit können auch ökofeministische Ansätze zurückgreifen,
um die tiefgreifenden Zusammenhänge des Unrechts im zwischenmenschlichen Bereich
und der Schöpfungszerstörung sichtbar zu machen.

Der Vorteil einer weisheitlichen Theologie gegenüber einer prophetischen ist,
daß sie sich nicht auf die Offenbarungserfahrungen besonderer Menschen bezieht,
sondern auf allgemein Erfahrbares.

Weisheit wirbt mit Argumenten und Plausibilitäten, indem sie die für alle erfahrbare Wirklichkeit
analysiert und daraus Folgerungen auf den Willen Gottes zieht.

Weil sie auf religiöse Insidersprache verzichten kann, ist sie in besonderer Weise
für interkulturelle und interreligiöse Dialoge geeignet, aus denen sie einst auch erwachsen ist.

Silvia Schroer (*1958), katholische Theologin, ist Professorin für Altes Testament
und Biblische Umwelt an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Bern.
Sie hat zahlreiche Bücher und Artikel zu Themen der altorientalischen Ikonographie
Palästinas/Israels und der feministischen Exegese publiziert.

Ihre Anschrift: Ev.-Theol. Fakultät, Unitobler, Länggassstr. 51, CH-3000 Bern 9

© Silvia Schroer 2000, lectio@theol.unibe.ch

[1] Vgl. dazu im folgenden Silvia Schroer, Die Weisheit hat ihr Haus gebaut. Studien zur Gestalt der
Sophia in den biblischen Schriften, Mainz 1996; Elisabeth Schüssler Fiorenza, Jesus - Miriams Kind,
Sophias Prophet. Kritische Anfragen feministischer Christologie, Gütersloh 1997; Athalya Brenner/Carole
Fontaine (ed.), Wisdom and Psalms. A Feminist Companion to the Bible (Second Series), Sheffield 1998.

[2] Christl Maier, Die »fremde Frau« in Proverbien 1-9. Eine exegetische und sozialgeschichtliche Studie
(Orbis Biblicus et Orientalis 144), Freiburg Schweiz/Göttingen 1995. Vergleiche Gerlinde Baumann,
Die Weisheitsgestalt in Proverbien 1-9. Traditionsgeschichtliche und theologische Studien
(Forschungen zum Alten Testament 16), Tübingen 1996.

[3] Angelika Strotmann, Weisheitschristologie ohen Antijudaismus? Gedanken zu einem bisher
vernachlässigten Aspekt in der Diskussion um die Weisheitschristologie im Neuen Testament, in:
Luise Schottroff /Marie-Theres Wacker (Hg.), Von der Wurzel getragen. Christlich-feministische Exegese
in Auseinandersetzung mit Antijudaismus, Leiden u.a. 1996, 153-175.

[4] Luise Schottroff, WanderprophetInnen. Eine feministische Analyse der Logienquelle: Evangelische Theologie
51 (1991) 332-344 (englische Version: The Sayings Source Q, in: E. Schüssler Fiorenza (ed.),
Searching the Scriptures, Vol. II, New York 1994, 510-534).

[5] Dorothee Sölle, Zwischen Patriarchat, Antijudaismus und Totalitarismus. Anmerkungen zu einer
Christologie in feministisch-theologischer Sicht: Orientierung 56 (1992) 130-133.

[6] Zum Folgenden verweise ich auf den forschungsgeschichtlichen Teil in Othmar Keel/ Silvia Schroer,
»Verdirb es nicht, ein Segen ist darin« (Jes 65,8). Biblische Versuche, die Welt als gelungene Schöpfung zu
begreifen (erscheint 2000).

[7] Bedeutend war im deutschsprachigen Raum Hans Heinrich Schmid, Wesen und Geschichte der Weisheit
(Beihefte zur Zeitschrift für Alttestamentliche Wissenschaft 101), Berlin 1966; derselbe, Gerechtigkeit als
Weltordnung. Hintergrund und Geschichte des alttestamentlichen Gerechtigkeitsbegriffs, Tübingen 1968.

[8] So sehr pointiert auch Dorothee Sölle, Lieben und arbeiten. Eine Theologie der Schöpfung, Stuttgart 1985.

[9] Jan Assmann, Ma'at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1990; Schroer,
aaO. 12-25; Klaus Koch, Sædaq und Ma'at. Konnektive Gerechtigkeit in Israel und Ägypten?,
in: Jan Assmann u.a. (Hg.), Gerechtigkeit. Richten und Retten in der abendländischen Tradition
und ihren altorientalischen Ursprüngen, München 1998, 37-64.

[10] Zitiert nach der Übersetzung von Helmut Brunner, Altägyptische Weisheit, Zürich/München 1988, 111 Z. 46-52.

[11] Vgl. ausführlich Antoinette Clark Wire, The Corinthian Women Prophets. A Reconstruction through Paul's
Rhetoric, Minneapolis 1990, und Elisabeth Schüssler Fiorenza, zuletzt aaO. 225.

[12] Op.cit.

[13] Vgl. Sung-Hee Lee-Linke (Hg.), Ein Hauch der Kraft Gottes. Weibliche Weisheit in den Weltreligionen,
Frankfurt a.M. 1999.




© Silvia Schroer 2000, lectio@theol.unibe.ch, ISSN 1661-3317


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