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Kapitalismus aufheben:
in Die politische Kalkulation: 09.01.2019 05:14von Adamon • Nexar | 15.548 Beiträge
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Gibt es heute noch linke Kapitalismuskritik? Sicher, gegen Kapitalismus sind viele, aber wie genau er überwunden werden könnte, dazu gibt es kaum aktuelle Theorien. Simon Sutterlütti und Stefan Meretz versuchen mit ihrem Buch „Kapitalismus aufheben“ diese Lücke zu schließen, oder besser gesagt, die Voraussetzungen dafür zu umreißen, die erfüllt sein müssen, damit diese Lücke geschlossen werden kann.
Sie formulieren sozusagen eine Meta-Theorie: eine Theorie darüber, wie Kapitalismuskritik aussehen müsste, damit sie die Transformation in eine herrschaftsfreie Gesellschaft möglich machen könnte.
Wie der Titel schon sagt, schwebt ihnen dabei eine dritte Alternative neben Reform und Revolution vor, und zwar die „Aufhebung“: Dabei wird der Kapitalismus anhand seiner inneren Widersprüche so auseinandergenommen beziehungsweise unterhöhlt, dass Gutes erhalten bleiben kann, während Schlechtes abgeschafft wird. Neue Praxen sollen sich innerhalb des Bestehenden entwickeln und dann nach und nach – irgendwann, wenn es „kippt“, auch schnell – eine Alternative darstellen.
Im Kopf haben die Autoren dabei eine vor allem vom Commons-Gedanken inspirierte Utopie. Ziel ist eine Gesellschaft, in der alle Menschen nach ihren Wünschen freiwillig zum Allgemeinwohl beitragen. Eigentum und Märkte gibt es nicht mehr, sondern Gemeinschaften und Gruppen, die sich dezentral selbst organisieren, koordinieren, Dinge produzieren und verbrauchen. Das klingt ein bisschen wie Schlaraffenland, ist es aber gar nicht unbedingt, denn es gibt in der Tat bereits theoretische Grundlagen darüber, wie eine solche Selbstorganisation funktionieren könnte. Grundlage wäre eine Commons-Ökonomie, also ein Wirtschaftssystem, das auf gemeinschaftlichem Eigentum beruht. Ein anderes Stichwort zur Organisationsweise lautet „Stigmergie“ (könnt ihr gerne mal googeln), und natürlich helfen auch Internet und Algorithmen bei Verteilung und Koordination.
Was die derzeitigen Verhältnisse betrifft, also jenen Zustand, der „aufgehoben“ werden soll, liegt den Überlegungen des Buches die Annahme zugrunde, dass der kapitalistischen „Exklusionslogik“ eine „commonistische Inklusionslogik“ entgegengesetzt werden müsste. Dabei würde gesellschaftlicher Wohlstand nicht mehr darauf basieren, sich etwas zu nehmen, das andere dann nicht mehr haben können, sondern darauf, dass der Wohlstand für alle sich erhöht, je mehr Menschen in ihrem eigenen Interesse wirken. Die Transformation der gesellschaftlichen Prinzipien und Paradigmen soll also nicht auf ethischen Entscheidungen der Einzelnen beruhen, sondern auf der inneren Dynamik der neuen gesellschaftlichen Strukturen.
Auf eine detailreiche „Auspinselung“ dieser Utopie verzichten die Autoren. Da ihre Grundlage die Freiheit aller Beteiligten ist, kann es ja unendlich viele Möglichkeiten geben, dies konkret zu realisieren, die logischerweise ja auch nicht vorhergesagt werden können. Der Entwurf ist vielmehr als Diskussionsgrundlage gedacht, die es ermöglichen soll, die vielfältigen Aktionen der Linken heute auf eine systemkritische Basis zu stellen. Das heißt, ihnen jeweils die Frage zu stellen, ob ihre Aktionen und Projekte tatsächlich dabei helfen, den Kapitalismus „aufzuheben“, oder nur ob sie bloß reformistische Kosmetik oder pseudoradikaler Aktionismus sind.
Dabei verstehen die Autoren ihre Thesen als Vorschlag und fordern dazu auf, Kritik anzubringen und auf Schwachstellen hinzuweisen. Meiner Ansicht nach gibt es auch tatsächlich einen Schwachpunkt, und zwar dass das Konzept durchgängig in Auseinandersetzung mit der Marx‘schen Kapitalismusdefinition entwickelt wird (ein Freund von mir hat spaßeshalber jede Bezugnahme auf Marx mit Bleistift eingekringelt, es sind sehr viele Kringel geworden). Marx ist aber nicht unbedingt ein sinnvoller Ausgangspunkt, da seine Analysen durchaus selbst hinterfragt werden können, vor allem aber weil der Zustand, den er analysiert, längst der Vergangenheit angehört. Kapitalismus funktioniert heute nicht mehr so wie im 19. Jahrhundert. Vielleicht ist diese Marx-Fixierung der Tatsache geschuldet, dass die Rosa Luxemburg Stiftung das Buch gesponsert hat, der These und dem Anliegen des Buches tut sie jedenfalls nicht gut.
Nur ein Beispiel: Care-Arbeit wird von den Autoren zwar als Notwendigkeit explizit angesprochen und auch durchgehend von Re-/Produktion gesprochen. Das ändert aber nichts daran (oder verschleiert sogar eher noch), dass Care-Ökonomie trotzdem inhaltlich nicht wirklich mitgedacht wird. Aus einer Care-Perspektive könnte man den Kapitalismus zum Beispiel nicht als eine Gesellschaftsform verstehen, die gänzlich auf „Exklusionslogik“ beruht. Die feministische Ökonomiekritik hat ja herausgearbeitet, dass die Exklusionslogik des kapitalistischen Marktes überhaupt nur deshalb funktioniert, weil sie permanent von einer unsichtbaren Sphäre familiärer und privater Carearbeit unterstützt wird, die eben in sich gerade nicht nach Exklusionslogik funktioniert, sondern auf Inklusionslogik – innerhalb von Familien gibt es keine Konkurrenzkämpfe, jedenfalls der Theorie nach, sondern Liebe und Solidarität.
Kapitalismus ist also, auch wenn Marx das nicht gesehen und analysiert hat, eine bestimmte Art der Mischung von Exklusions- und Inklusionsbeziehungen. Besteht also seine Aufhebung wirklich darin, alle gesellschaftlichen Beziehungen prinzipiell inklusiv zu gestalten? Oder wäre die wirkliche Aufhebung nicht eher, neue und andere „Mischungsverhältnisse“ anzustreben, also die bisher in patriarchaler Familienlogik privatisierte Inklusion, zu einer politisch-freiheitlichen zu machen – statt sie völlig neu zu erfinden?
Ein anderes Fragezeichen klebt für mich an der Hoffnung des „stigmertischen Gesetzes“, wonach bei hinreichender Größe einer Gruppe alle notwendigen Arbeiten auch gemacht werden. Ehrlich gesagt möchte ich mich darauf ebenso wenig verlassen, wie darauf, dass die „unsichtbare Hand des Marktes“ es schon regelt. Für meinen Geschmack ist das Menschenbild hinter der commonistischen Utopie noch zu sehr von einer autonomistisch gedachten Freiheit geprägt, in der Freie und Gleiche auf Augenhöhe miteinander verhandeln, und das wichtigste Merkmal für Herrschaftsfreiheit ist, dass niemand zu etwas gezwungen werden kann. Aber ist nicht das wichtigste Merkmal von Herrschaftsfreiheit die Sicherheit, dass egal was mir passiert und wie krank oder alt ich auch werden mag, für meine Bedürfnisse verlässlich gesorgt sein wird?
Vielleicht bin ich aber auch nur zu sehr in der heutigen Logik verhaftet, um mir das commonistische Utopia vorstellen zu können. Jedenfalls wäre es begrüßenswert, wenn das Buch zum Anlass wird, dass wir innerhalb der Linken über solche prinzipiellen Fragen wieder diskutieren und unsere eigenen Unternehmungen am Ziel einer wirklichen Gesellschaftstransformation zu messen.
Antje Schrupp
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