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#1

Die primitive Philosophie:

in Die man Philosophen nennt. - 01.06.2010 22:13
von Adamon • Nexar | 15.452 Beiträge

Aus: http://www.zeno.org/Mauthner-1923/A/primitive+Philosophie

"Primitive Philosophie":

– Den schönen Satz, Vollständigkeit sei der Tod der Wissenschaft,
hat sein Präger, Wilamowitz-Möllendorf, wohl nur gegen die Professoren gemünzt,
die sich nicht genug tun können an Literaturangaben über jede Lappalie;
in den historischen Wissenschaften aber erbt sich die Sucht weiter und weiter fort,
die Geschichte bis in Zeiten zurückzuverfolgen, von denen wir nichts wissen können.

Diese Sucht ist noch gesteigert worden durch den Darwinismus oder die Entwicklungslehre;
man schickte sich ernstlich an, allen Ausdrucksformen der menschlichen Kultur
bis zu ihren Uranfängen zurück nachzuspüren.

Auch die Philosophie des Urmenschen, die primitive Philosophie,
sollte erschlossen werden; das Protoplasma der Philosophie
sollte entdeckt oder konstruiert werden.

Wir lächeln heute, wenn wir in Bruckers »Kurzen Fragen aus der Philosophischen Historie
von Anfang der Welt bis auf die Geburt Christi« (1731. Bd. I, S. 39) als eine Kapitelüberschrift
die Frage lesen: »Sind vor der Sündfluth auch schon philosophi gewesen?«

Und im folgenden Abschnitt eine fast lustige [572] Widerlegung der Behauptung,
dass Adam ein vollkommener Dialektiker, Physiker, Ethiker, Mathematiker, Politiker
und endlich der allervollkommenste Polyhistor gewesen sei. Wir lächeln über Brucker,
trotzdem er die Frage nicht ohne eine kleine Ironie behandelt.
Wir sollten auch die neuesten Versuche, eine Geschichte der primitiven Philosophie
in weniger bibelfester Sprache zu schreiben, nicht allzu ernst nehmen.

Ich denke da zunächst an Wundts Aufsatz »Die Anfänge der Philosophie und die Philosophie
der primitiven Völker« (Kultur der Gegenwart I, Abt. V).

Wundt verbreitet sich über die primitive Logik, die primitive Psychologie,
die primitive Naturphilosophie und die primitive Ethik.

Er macht sich den gefährlichen Grundsatz der Geschichtswissenschaft zu eigen,
die Anfänge eines Kulturgebietes und die betreffenden
Zustände bei den sogenannten Naturvölkern der Gegenwart
gleichzusetzen; darum fallen ihm die Begriffe
»Anfänge der Philosophie« und »Philosophie der primitiven Völker« zusammen.

Er sieht ganz gut, dass die primitive Philosophie unsere Logik noch nicht kannte,
dass die Seelenlehre der Urzeiten noch auf unsere Psychologie herüberwirkt,
dass die primitive Naturphilosophie zwar den Ursachbegriff schon besaß,
aber den Zauber für eine zureichende Ursache hielt, den wunderwirkenden Gott,
dass die primitive Ethik der Naturvölker es oft genug mit der sog. geläuterten Ethik
unseres christlichen und philosophischen Abendlandes aufnimmt.

(Anm.: Vielleicht sollten Wir hier von "philosophischen Erfahrungen bzw.
Zuschreibungen" ausgehen, - solche können sehr wohl auch aus Zauber-
bzw. Gotteserfahrungen resultieren. - Wer meint, solcherart könne man
nicht "erfahren", verkennt das Gebiet der Erfahrung. - (AvE)

Für die vergleichende Anthropologie mag durch solche Untersuchungen
mancher gottlose Satz sich ergeben, den ausdrücklich zu formulieren
sich Wundt vorsichtig hütet.

Wollten wir Ernst machen mit der Frage nach einer primitiven Philosophie,
so müssten wir vorher beide Worte für diesen Zusammenhang genauer definieren.

Primitiv ist ein arg relativer Begriff.
Wenn in der Kunstgeschichte von Primitiven gesprochen wird,
so denkt man an italienische Maler des 15. und dann wieder an
englische Maler des 19. Jahrhunderts; also an Maler einer sehr
historischen Zeit, die nur etwas kindlicher und ungeschickter waren
(oder sich stellten) als die klassischen Meister.

In der Geologie denkt man bei[573] primitiven Gebirgen an eine Urzeit,
die nach der gegenwärtigen Lehre der Existenz der Menschen
um Hunderttausende von Jahren vorausging.

Sonst heißt primitiv soviel oder sowenig wie ursprünglich, prähistorisch,
oder: was heute in den Kulturzuständen lebt, die wir als die urältesten Zustände
der heutigen Kulturvölker voraussetzen.
Über die sich also ohne jenen verwegenen Analogieschluss
nichts ausmachen lässt.

Philosophie wiederum bedeutet heute ungefähr soviel wie Erkenntniskritik;
das Wort bedeutete in früheren Jahrhunderten nacheinander manche andere
Sehnsucht nach Erkenntnis:
Nach Erkenntnis der reinen Vernunft, des Zusammenhangs zwischen Geist und Körper,
des göttlichen Wesens, des Verhältnisses zwischen Idee und Individuum usw. zurück.

Wenn nun der gute alte Brucker halb im Scherze die Frage
aufwarf, wer der erste philosophus gewesen sei,
so hatte das nach dem Stande der damaligen Geschichtswissenschaft den guten Sinn:

Ob eine von den philosophischen Schulen, die traditionell immer genannt wurden,
schon in den überlieferten Äußerungen Adams nachzuweisen wäre oder nicht.

Wird heute die Frage aufgeworfen, ob die sogenannten Naturvölker,
also ob die prähistorischen Völker eine Weltanschauung gehabt haben,
auf welche sich der fließende Begriff Philosophie noch anwenden lasse,
so hat das einen so klaren Sinn nicht.

Wir müssen die Urzeit, da wir an Adam nicht mehr glauben,
immer weiter und weiter zurück rücken, und wir müssen mit dem
Begriffe Philosophie einen fast nicht mehr erlaubten
Bedeutungswandel vornehmen.

Da wir uns gewöhnt haben, die Entwicklung
des Menschen beim Tiere anfangen zu lassen,
so müssten wir konsequenterweise auch im
Seelenleben der Tiere die primitive Philosophie aufsuchen.

Und da würde sich bald herausstellen, dass wir unter der historischen und gar
unter der neuesten Philosophie das bewussteste Nachdenken der Menschen über die
Grundlagen ihres Handelns und Wissens verstehen,
dass wir dagegen eine primitive Philosophie auch in
solche Äußerungen der »Wilden« hineinlegen,
deren Tragweite ihnen niemals zum Bewusstsein gekommen ist.

Auch die Handlungen und Weltorientierungen der[574] Tiere
ließen sich leicht nach Begriffen ordnen, die der menschlichen Logik, Psychologie,
Naturphilosophie und Ethik angehören; und ich habe auch gar nichts dagegen,
dass man eine »Philosophie der Tiere« schreibe, - wenn nur die Besonnenheit
darüber nicht verloren geht, dass es sich um eine kühne Ausdehnung von
Menschenbegriffen handelt.

Und das wird bei solchen Untersuchungen leider gern übersehen.

Nicht die primitive Philosophie, auch nicht einmal die Philosophie
der primitiven Völker können wir erschließen, sondern nur die Fragen
zu beantworten suchen: was verstand man in alten Zeiten unter den
Worten, die geradezu oder in Übersetzungen die technischen Ausdrücke
unserer Philosophie geworden sind ?

Und: in welchem Sinne lassen sich einige dieser Ausdrücke
auf das Denken der Naturvölker anwenden ?

Ich glaube nicht, dass wir in der Erschließung einer
ursprünglichen Philosophie weiter gelangen
werden als zu einer lückenhaften Wortgeschichte
der gemeinsprachlichen Begriffe der Philosophie
und zu einem Versuche, mit einem rückwärts gekehrten
Bedeutungswandel die Worte auf die etwaigen Vorstellungen
alter Völker und lebender Menschenfresser auszudehnen.

Es mag ja sein, dass unter den Vorstellungen uralter Völker und
wilder Völkerschaften von heute solche sind, die das Wörterbuch
unserer Philosophie ganz und gar nicht kennt; dann aber wären
wir gar nicht in der Lage, solche Vorstellungen kennen zu lernen,
sie in die Sprache unserer Philosophie zu übersetzen.

Ich gestehe aber, dass ich an die Existenz verborgener
primitiver Weisheit nicht glaube.

Viel näher liegt mir der traurige Gedanke, dass die letzten Fragen der Philosophie
von der Gebrechlichkeit der menschlichen Sinne und des menschlichen Verstandes
immer gleichartig gestellt worden sind, dass der Fortschritt der Sprache nur darin bestand,
die Fragen bestimmter zu fassen, und dass wir ihnen eine
Antwort zu finden heute weniger hoffen als in Urzeiten.

Im Gefühle dieser Resignation könnte man gar leicht unsere heutige
Erkenntniskritik die erste, die primitive Philosophie nennen.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 2, S. 571-575.
Lizenz:
Gemeinfrei
Faksimiles:
571 | 572 | 573 | 574 | 575
Kategorien:
Lexikalischer Artikel


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