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Der ganze Staat ist das Hirn:
in Channeling & Vernetzung. - 11.02.2010 01:41von Atlan • Nexar | 15.548 Beiträge
Aus: http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,675404,00.html
Der Ameisenforscher Bert Hölldobler über Sklaverei, Völkerwanderungen und kriegerische Schauturniere bei Ameisenkolonien - und die Vorteile einer Sozialstruktur ohne Hierarchien...
Ameisenforschung: "Wir nennen es Superorganismus"
SPIEGEL: Herr Hölldobler, können Sie uns Ameisen als Haustiere empfehlen?
Hölldobler: In meiner Bubenzeit durfte ich tatsächlich eine Kolonie von Rossameisen in meinem Zimmer halten. Schöne Tiere waren das, kastanienbraun und glänzend. Ich sah bald, dass sie vorwiegend nachts auf Nahrungssuche waren. Deshalb hängte ich einen Zettel an die Zimmertür, dass erst ab dem Nachmittag gesaugt werden durfte. Heute habe ich keine Ameisen mehr im Haus, aber wie ich höre, ist dieses Hobby in Deutschland inzwischen recht populär geworden. Man kann sogar jede Menge Völker im Handel kaufen.
SPIEGEL: Wenn wir hier inmitten von Berlin eine Ameisenkolonie finden wollten,
wie lange müssten wir suchen?
Hölldobler: Jetzt, im Winter, schlafen die. Aber im Sommer müssten Sie nur vors Haus,
und schon würden Sie fündig.
SPIEGEL: Und hier im Gebäude?
Hölldobler: Ich will es nicht hoffen. Das wären dann wohl Pharaoameisen, winzige Tiere, die Sie ziemlich leicht von Ihrem Urlaub aus den Tropen mitbringen können. Es genügen ein paar Arbeiterinnen mit ihrer Brut zwischen zwei Buchseiten. Daraus kann eine vollständige neue Kolonie entstehen, die ziemlich schnell immer weiter wächst. Am Ende entwickeln sich daraus Tausende Königinnen in einer Art Superkolonie, die das ganze Haus besetzt.
SPIEGEL: Und wie kann man die wieder loswerden?
Hölldobler: Ganz schwer. An der Harvard University musste einmal sogar der Bau eines Hochsicherheitslabors zur Genmanipulation gestoppt werden, weil das Gebäude von Pharaoameisen befallen war. Man fürchtete, dass die Tiere durch die elektrischen Leitungskanäle dringen und dann genmanipulierte Bakterien hinausschleppen könnten.
SPIEGEL: Sie haben Ihr ganzes akademisches Leben den Ameisen gewidmet.
Was fasziniert Sie so sehr daran?
Hölldobler: Fasziniert Sie das nicht? Nehmen Sie nur die Treiberameisen. So ein Volk sieht aus wie eine einzige Amöbe: hundert Meter lange Kolonnen, die sich da vorwärtswälzen und alles einheimsen, was ihnen unterkommt. Und die Beute wird entlang der Kolonne zurücktransportiert ins Biwak; diese Ameisen haben ja keine festen Nester. Das sind Riesengebilde, die je nach Art fächerförmig ausschwärmen oder alle wie eine riesige Walze in die gleiche Richtung eilen. Oder denken Sie an die Blattschneiderameisen ...
SPIEGEL: ... die in Südamerika die Bäume kahlfressen ...
Hölldobler: ... und mit den Blättern dann Pilze züchten. Genau die. Das ist regelrechte Landwirtschaft, was die treiben. Und dazu gibt es eine präzise Kastendemografie von riesigen Soldatinnen, großen, mittelgroßen und winzigen Arbeiterinnen. Die eine Gruppe, mittelgroß, zerkleinert die herangeschafften Blattstücke. Andere wieder kümmern sich um die nahrhaften Endverdickungen des Pilzes. Und jede dieser Größenklassen ist in einem festgelegten Prozentsatz vorhanden. Wenn man ihnen zum Beispiel drei Viertel der riesigen Supersoldaten wegnimmt, dann werden die Larven so lange stärker gefüttert, bis die ursprüngliche Zahl der Soldaten wieder präzise erreicht ist. Das ist, wie wenn Körpergewebe nachwächst.
SPIEGEL: So ein Volk verhält sich also wie ein einziger Organismus?
Hölldobler: Ebendeshalb nennen wir es ja einen Superorganismus. Wir, Edward O. Wilson und ich, versuchen diesen alten Begriff wiederzubeleben. Entscheidend ist, dass die Evolution nicht nur die einzelne Ameise betrifft, sondern auf die Kolonie als Ganzes wirkt. Voraussetzung dafür ist die Arbeitsteilung: Einige wenige Tiere pflanzen sich fort, viele sterile Nestgenossinnen versorgen sie und ihre Brut. Das lässt sich vergleichen mit einem Organismus, wo es ebenfalls eine Arbeitsteilung gibt zwischen den Keimzellen, aus denen die Nachkommen hervorgehen, und dem übrigen Körper, der letztlich nur dafür sorgt, dass diese Keimzellen sich möglichst erfolgreich fortpflanzen.
SPIEGEL: In unserem Körper entwickeln sich einige Zellen zur Leber-,
andere aber zur Hirnzelle ...
Hölldobler: ... obwohl sie alle das gleiche Erbgut haben. Bei sozialen Insekten ist das sehr ähnlich. Nur dass es bei ihnen darum geht, ob aus einer Larve eine reproduktive Königin wird, eine Soldatin oder eine winzige Arbeiterin - genetisch sind die Larven ja für jede dieser Karrieren geeignet.
SPIEGEL: Die Königin, so sagen Sie, ist also Spezialistin für die Fortpflanzung.
Hölldobler: Sie ist eine reine Eierlegemaschine. Bei den Blattschneiderameisen bringt sie am Tag rund 29.000 Eier hervor. Im Laufe ihres 10- oder gar 20-jährigen Lebens kann sie bis zu 150 Millionen Nachkommen produzieren.
SPIEGEL: Und die Soldatinnen sind dann das Immunsystem des Superorganismus?
Hölldobler: So könnte man es sehen. Oder nehmen Sie zum Beispiel die Nester, die sind die Haut der Kolonie. Die Blattschneider bauen ja gewaltige Bauten, die acht Meter in die Tiefe reichen und 50 Quadratmeter umfassen. Bei einer Art hat man 90 Meter lange kerzengerade Tunnel gefunden, an deren Ausgängen überhaupt erst ihre Ausfallstraßen zu den umliegenden Ernteplätzen beginnen. Für so winzige Tiere ist das eine Leistung wie die Chinesische Mauer für uns Menschen. Dazuhin graben sie noch Schächte zur Entlüftung, denn der Pilz produziert ja eine Menge Kohlendioxid.
SPIEGEL: Also eine Art Lunge?
Hölldobler: Ja. Und zwar spielen dabei offenbar auch die großen Abfallkammern eine Rolle, in denen es immer zwei, drei Grad wärmer ist als sonst im Bau. Von hier aus steigt ein Strom warmer Luft auf, und im Gegenzug sinkt frische Luft nach unten.
SPIEGEL: Wo sitzt das Gehirn der Kolonie?
Hölldobler: Der ganze Ameisenstaat ist das Gehirn. Auch bei uns ist ja das einzelne Neuron dumm. Nur weil Milliarden davon zusammengeschaltet sind, kommen all unsere grandiosen Leistungen heraus. So ähnlich ist es mit den Ameisen: Ihr Verhaltensrepertoire ist beschränkt. Wenn man aber ein paar Millionen von ihnen zu einem arbeitsteiligen System zusammenschaltet, werden emergente Leistungen möglich, die das Vermögen eines einzelnen Tieres weit übersteigen.
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RE: Der ganze Staat ist das Hirn:
in Channeling & Vernetzung. - 11.02.2010 01:42von Atlan • Nexar | 15.548 Beiträge
SPIEGEL: Wie wird denn die Zusammenarbeit dieser Millionen Tiere koordiniert?
Hölldobler: Tja, wie zum Beispiel spricht sich herum, was der Pilz gerade für Blätter braucht? Wir wissen, dass die Pilzpfleger mitkriegen, wenn der Pilz, salopp gesagt, einen Wechsel will. Aber wie erfahren die Ernteameisen draußen davon? Die haben ja mit dem Pilz gar keinen direkten Kontakt. Und trotzdem wissen wir: Die Nachricht wird irgendwie weitergegeben.
SPIEGEL: Und wenn der Pilz stirbt?
Hölldobler: Dann bleibt nur der Umzug. Vor allem wenn ein bestimmter parasitischer Pilz in den Pilzgärten überhandnimmt wie ein Tumor in diesem Superorganismus. Wir Menschen können unserem Krebs nicht davonlaufen. Die können das.
SPIEGEL: Und wer entscheidet, dass es Zeit zum Umziehen ist?
Hölldobler: Nichts wissen wir darüber, gar nichts. Der Umzug eines Millionenvolks ist etwas so Unglaubliches! Irgendwann sieht man, wie die ersten Tiere Stückchen des noch intakten Pilzes raustragen. Dann läuft eine ganze Kolonne und schleppt den übrigen Pilz rüber. Und zum Schluss kommt die Königin, umgeben von Bodyguards. Bei der geringsten Störung wird sie sofort unter irgendein Blatt geschoben, und dann stellen sich die Soldatinnen davor. Manchmal kann es Tage dauern, bis die Königin drüben ist.
SPIEGEL: Wie finden die Ameisen denn einen geeigneten Platz für den Neuanfang?
Hölldobler: Das zählt für mich zum Faszinierendsten überhaupt. Dazu eine kleine Anekdote: Ich habe mir einmal Ameisen einer bestimmten Art schicken lassen, aus Italien. Einen Tag lang stand das Päckchen mit der Kolonie auf meinem Schreibtisch. Danach mach ich es auf und stelle fest: leer, keine Ameisen drin. Verdammt, habe ich gedacht, die müssen unterwegs abgehauen sein. Und dann sehe ich auf einmal einzelne von diesen Biestern rumlaufen. Denen hab ich kleine Köder gegeben, und siehe da: Sie liefen schnurstracks zum einzigen Blumentopf im Zimmer.
SPIEGEL: ... in dem dann das Volk saß?
Hölldobler: Ja, denen hatte es in dem Päckchen offensichtlich nicht gepasst, deshalb haben sie Späher ausgeschickt. Die haben den Blumentopf entdeckt und für gut befunden. Dann zieht erst eine Mannschaft rüber und bereitet alles vor, dann kommt der Umzug, und in der Mitte das Allerwertvollste, die Königin. Das alles war in einer Nacht passiert! Ist das nicht toll?
SPIEGEL: Wie fällt denn so eine Kolonie den Entschluss zum Umzug?
Hölldobler: Um das rauszufinden, bietet ein Kollege von mir Ameisenvölkern Nester verschiedener Qualität und Größe an. Dabei stellte er fest, dass jeder Späher, der ein Nest gefunden hat, andere Späher zu rekrutieren versucht, die dann ihrerseits für dieses Nest werben ...
SPIEGEL: ... während aber andere Werbung für einen anderen Nistplatz machen.
Hölldobler: Ganz genau. Das ist ein langer Prozess, und am Ende entscheidet eine Art Abstimmung: Wenn eine bestimmte Schwelle von Spähern überschritten ist, die alle zum selben Nest laufen, dann ist das die Entscheidung zum Umzug.
SPIEGEL: Das heißt: Simple Algorithmen im Hirn der Insekten bringen sehr komplexe Verhaltensweisen hervor.
Hölldobler: Nur dass wir leider nicht wissen, wie das im Ameisenhirn programmiert ist.
SPIEGEL: Einiges scheint man immerhin schon verstanden zu haben. Sie selbst haben zum Beispiel erforscht, wie die Turniere ablaufen, die einige Ameisenarten austragen, um die Stärke eines gegnerischen Volks abzuschätzen.
Hölldobler: Ja. Wir haben während vieler solcher Turniere per Video die Laufwege der einzelnen Tiere verfolgt. Und da haben wir gemerkt: Die meisten recken sich nur, setzen sich in Pose und stehen auf einem Fleck. Nur eine bestimmte Gruppe etwas kleinerer Ameisen flitzt durch das Turnier und testet kurz: Aha, Nestgenosse, Gegner, Gegner, Nestgenosse, Gegner. Und das sind dann auch diejenigen, die ins Nest zurücklaufen und Verstärkung holen, wenn sie auf zu viele Gegner stoßen.
SPIEGEL: Diese Zähler sind also so eine Art Intellektuellen-Kaste?
Hölldobler: Ich nenne sie eher die Sinnesorgane des Superorganismus, die Informationen sammeln. Die größeren dagegen, die nur dastehen und ihre Show machen, die sind für die Kolonie, was das Geweih für den Hirsch ist.
SPIEGEL: Lässt sich erklären, wie die verblüffende Fülle solcher Verhaltensweisen bei den Ameisen entstanden ist?
Hölldobler: Alles ging vor ungefähr 120 Millionen Jahren damit los, dass eine Wespenart ihre Flügel verlor. Sie hatte begonnen, sich die Laubstreu am Erdboden als Lebensraum zu erobern, und dafür waren die Flügel sinnlos geworden.
SPIEGEL: Zu einer ökologisch dominanten Art machte sie das aber noch nicht?
Hölldobler: Völlig richtig. Wir wissen heute, dass es zwei Übergänge auf dem Weg zum Superorganismus gab: Der erste führte von solitären, allein lebenden Insekten zu einer eher primitiven Kolonie, die noch sehr hierarchisch organisiert war.
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RE: Der ganze Staat ist das Hirn:
in Channeling & Vernetzung. - 11.02.2010 01:43von Atlan • Nexar | 15.548 Beiträge
SPIEGEL: Also eine Art Übergangszustand.
Hölldobler: Einige Ameisenarten befinden sich bis heute darin. Ihre Kolonien bestehen aus vielen Individuen, die zwar Arbeiterinnen genannt werden, aber fast genauso aussehen wie Königinnen. Bis zu 80 Prozent von ihnen sind begattet, ihre Eierstöcke sind gut entwickelt, und sie alle könnten selbst Nachkommen produzieren. Wenn die jeweilige Königin stirbt, gibt es deshalb sofort Dominanzkämpfe wie in einer Affenhorde. Wer am Ende gewinnt, darf sich als Nächstes reproduzieren.
SPIEGEL: Schadet solche Missgunst nicht dem Wohlergehen der Kolonie?
Hölldobler: Und wie. Das schränkt die Kolonien enorm in ihrem Wachstum ein. Die Arbeitsteilung ist bei ihnen relativ schlecht entwickelt. Und auch die Massenkommunikation, mit der sich schnell große Scharen mobilisieren lassen, gibt es nicht.
SPIEGEL: Und worin bestand dann die zweite Stufe der Ameisen-Evolution?
Hölldobler: Darin, dass die Arbeiterin ihre Fähigkeit verliert, sich zu reproduzieren. Dann ist der "Point of no return" überschritten, und es entstehen Riesenkolonien aus Millionen sterilen Tieren, die oft noch in verschiedene Subkasten eingeteilt sind. Jetzt haben wir den echten, den ultimativen Superorganismus, der wachsende Territorien dominieren kann.
SPIEGEL: Dann steigen wohl auch die Ausgaben für den Militärhaushalt?
Hölldobler: Es kommt in der Tat zu kriegsähnlichen Auseinandersetzungen, zu Territorialkämpfen mit riesigen Verlusten. Generell gilt dabei: je heftiger die Konflikte mit den Nachbarn, desto stärker die Kooperation im Inneren.
SPIEGEL: Dies führte dazu, dass Ameisen heute im Amazonas-Regenwald ein Vielfaches der Biomasse ausmachen, die alle Vögel, Säugetiere, Reptilien und Amphibien zusammen bilden. Wenn aber die Lebensform in Staaten so erfolgreich ist, warum gibt es dann bei den Löwen keine Königin; warum gibt es keinen Hühnerstaat und keinen Superorganismus von Bibern?
Hölldobler: Letztlich wissen wir es nicht. Eine richtige Arbeitsteilung zwischen Königin und Arbeiterinnen finden wir bei den Wirbeltieren nur bei den Nacktmullen und den Damara-Graumullen ...
SPIEGEL: ... die nicht gerade der Inbegriff evolutionären Erfolgs sind.
Hölldobler: Richtig. Das einzige Wirbeltier, das den Planeten wirklich dominiert, sind wir - und dies, obwohl unser biologisches Verhalten vergleichsweise simpel ist.
SPIEGEL: Sie wollen behaupten, das soziale Gefüge des Menschen sei primitiv?
Hölldobler: Biologisch betrachtet sind wir eine Primatengesellschaft. Und wenn Sie die soziale Organisation der Schimpansen oder Bonobos betrachten, dann sind diese Systeme im Vergleich zur Ameise simpel. Was unser System so komplex macht, ist der kulturelle Überbau. Und den gibt es bei den Ameisen eben nicht. Ich würde zum Beispiel sagen, dass Sklaverei und das Ausbeuten anderer Gesellschaften vorwiegend kulturell erworben wurden ...
SPIEGEL: ... während Ameisen geborene Sklavenhalter sind?
Hölldobler: Einige Arten schon. Die führen zum Beispiel Raubzüge auf eine andere, nahe verwandte Art aus, greifen sich deren Puppen und schleppen sie in ihr Nest. Wenn diese Puppen geschlüpft sind, helfen sie eifrig mit und ziehen den fremden Nachwuchs auf. Dass sie das jetzt für eine andere Art machen, wissen sie natürlich nicht. Denn sie werden gleich beim Schlüpfen auf den Kolonieduft geprägt.
SPIEGEL: Sklaverei ist für Sie also ein Zeichen hochstehenden sozialen Verhaltens?
Hölldobler: Es ist ein sozial komplexes, evolviertes Verhalten. Wenn man fremde Arbeiterinnen stiehlt, dann braucht man in ihre Aufzucht keine Energie zu stecken. Und die gesparte Energie lässt sich wiederum in Geschlechtstiere investieren.
SPIEGEL: Wie weit, glauben Sie, könnten sich Ameisen noch fortentwickeln? Könnten sie irgendwann vielleicht sogar Bewusstsein hervorbringen?
Hölldobler: Ich glaube nicht, dass das Ameisengehirn selbst komplexer werden wird.
SPIEGEL: Es könnte ja auch der Staat als ganzer Bewusstsein erlangen.
Hölldobler: Ja, manchmal fragt man sich, ob die nicht schon so etwas haben.
SPIEGEL: Und, was denkt die Kolonie?
Hölldobler: Leider kann man das nicht messen. Ameisen leben in einer ganz anderen Welt. Da wage ich nicht, ein Urteil zu fällen. Wir wissen ja nicht einmal, was die einzelne Ameise denkt. Immerhin hat sie nahezu eine Million Neuronen im Kopf. Wir wissen, dass sie damit lernen kann. Und sie macht sicher sehr unterschiedliche Erfahrungen. Warum sollte es da nicht einzelne Ameisen geben, die dank ihrer Erfahrung zum Beispiel besonders gute Jägerinnen sind?
SPIEGEL: Gibt es Hinweise darauf?
Hölldobler: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ich habe in Arizona Ameisen erforscht, die Jagd auf Termiten machen. Eines Tages sehe ich, wie einzelne von ihnen vor den Nestern einer ganz anderen Art sitzen und darauf warten, dass die heimkommen. Und wenn eine von denen eine Termite mitbringt, dann reißen sie ihr die Beute weg und machen sich aus dem Staub. Zwei Wochen habe ich das verfolgt. Und tatsächlich: Immer wieder, Tag für Tag, sind dieselben Wegelagerer an diesem Nest aufgetaucht. Statt, wie ihre Nestgenossinnen, mühsam selbst Jagd auf Termiten zu machen, haben sie gelernt, andere zu beklauen.
SPIEGEL: Können wir Menschen etwas von den Ameisen lernen?
Hölldobler: Jedenfalls sollten wir nicht einen Staat wie den Ameisenstaat anstreben. Das wäre entsetzlich langweilig. Ich würde nur in einem Staat leben wollen, in dem meine Individualität geschätzt wird.
SPIEGEL: Man braucht ja nicht das ganze Staatswesen zu übernehmen ...
Hölldobler: Lehrreich ist auf jeden Fall, dass eine netzwerkartige Arbeitsteilung, bei der Gruppen verschiedener Experten interagieren, außerordentlich effizient ist. Hierarchische Systeme schneiden deutlich schlechter ab - einfach weil sie zu viel Reibung erzeugen. Hierarchien werden ja immer wieder abgesetzt und neu geformt.
SPIEGEL: Für die Gestaltung einer Unternehmenskultur kann das ja eine wichtige Lektion sein.
Hölldobler: Durchaus. Und noch etwas anderes lehren uns die Ameisen: Überall, wo Sie komplex organisierte Kooperation in der Natur haben, finden Sie stets auch aggressive Diskriminierung von Mitgliedern konkurrierender Systeme.
SPIEGEL: Was meinen Sie damit?
Hölldobler: Wir Menschen bilden zwar keinen Superorganismus, aber es ist kaum mehr als 10.000 Jahre her, dass auch wir, wie die Ameisen, untereinander als Jäger und Sammler in Gruppen um begrenzte Ressourcen konkurriert haben. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie von soziologischer Seite proklamiert wurde, das fremdenfeindliche Verhalten, das in uns schlummert, sei erst mit der Erfindung von Besitz und Landwirtschaft in die Welt gekommen. Im Grunde sei der Mensch ein friedvolles Wesen. Das aber ist Quatsch. Friedfertigkeit wäre evolutionsbiologisch völlig widersinnig. Wir sollten deshalb akzeptieren, dass der Mensch schon im Kindergarten typisches Ingroup/Outgroup-Verhalten zeigt. Das gibt es, und das war einstmals eine sinnvolle Anpassung.
SPIEGEL: Wollen Sie damit fremdenfeindliches Verhalten entschuldigen?
Hölldobler: Nein, natürlich nicht. Aber mit der xenophoben Veranlagung ist es wie mit den Weisheitszähnen: Man hat sie, auch wenn man sie am liebsten los wäre. Ich glaube, wir achten in der Kindererziehung viel zu wenig darauf, dass das in uns schlummert. Wenn wir das akzeptieren würden, dann könnten wir mit diesem biologischen Erbe viel besser klarkommen.
SPIEGEL: Nun gibt es aber auch Ameisenarten wie zum Beispiel die Pharaoameisen, von denen Sie anfangs sprachen. Bei denen bekriegen sich die Kolonien nicht untereinander. Sie haben sich fortentwickelt zur Superkolonie, wo es nur noch Kooperation und Einvernehmen gibt.
Hölldobler: Es wäre natürlich toll, wenn es die Menschheit einmal zur globalen Kolonie brächte. Aber ich fürchte, biologisch hat dieses Modell wenig Zukunft.
SPIEGEL: Herr Hölldobler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Das SPIEGEL-Gespräch führten die Redakteure Manfred Dworschak und Johann Grolle.
- Verwebe zu: Die Ameise:
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RE: Der ganze Staat ist das Hirn:
in Channeling & Vernetzung. - 09.11.2014 08:48von Adamon • Nexar | 15.548 Beiträge
Superorganismus Insektenwelt:
Aus: http://grenzwissenschaft-aktuell.blogspo...gieren-wie.html
Ameisen | Copyright: Public Domain
Gainesville/ USA - Was lange Zeit vermutet wurde, konnte nun von einem Team von US-Wissenschaftlern auch mathematisch bestätigt werden: Insektenkolonien folgen als Ganzes denselben "biologischen Regeln", wie Individuen. Aus ihrer Beobachtung leiten die Forscher die Schlussfolgerung ab, dass Insektenstaaten physiologisch und lebensrhythmisch wie ein einziger Superorganismus verhalten.
Seit mehr als einem Jahrhundert rätseln Biologen über das hochgradig gemeinschaftliche Verhalten von Ameisen, Bienen und anderer staatenbildender Insekten, mit dem das Überleben und Wachstum der Kolonie gesichert wird.
Die beobachteten sozialen Interaktionen gleichen laut den Forschern jener Art und Weise, wie Zellen in einem einzigen Körper miteinander interagieren und können somit durchaus als "Superorganismus" bezeichnet werden, ein Organismus also, der aus vielen kleineren Organismen besteht.
Mathematische Modellberechnungen für Lebensdauer, Lebensrhythmus, Wachstum und Reproduktion einzelner Individuen, haben die Forscher nun auf 168 staatenbildende Insektenarten angewendet und gezeigt, dass sich die Ergebnisse fast nicht von jenen individueller Organismen lassen. Ihre Ergebnisse haben die Wissenschaftler im Fachmagazin "Proceedings of the National Academy of Sciences" (PNAS) veröffentlicht.
"Zwei der wichtigsten Erfindungen des Lebens waren die Art und Weise, wie sich einzelne unabhängige Zellen zu einem einzelnen Organismus zusammentaten und wie sich Individuen wiederum zu Gemein- und Gesellschaften zusammenfanden", erläutert Dr. James Gilroy von der "University of Florida" (UF). Anhand der neuen Ergebnisse erhoffen sich die Forscher nun neue Einsichten in jene Prozesse, die zur Bildung sozialer Systeme durch natürliche Auslese geführt haben, wenn etwa sterile Arbeiter nur aus dem einen Grund existieren, um der Königin beim Gebären behilflich zu sein.
Die Erkenntnisse werden wahrscheinlich auch Auswirkungen auf das Verständnis menschlicher Gesellschaften haben. "Einer der Gründe für unser Interesse an sozialen Insekten und die Auswirkungen ihrer Lebensweise in Gruppen ist, dass diese uns auch etwas über unsere eigenen Spezies sagen können", kommentiert der Koautor der Studie Dr. Michael Kaspari von der "University of Oklahoma" und dem "Smithsonian Tropical Research Institute".
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